Wie schon in Burgos gestaltete sich der Weg aus dieser Großstadt für mich anfangs sagen wir etwas kompliziert… Auch diesmal lag meine gewählte Herberge nicht direkt am Weg. Mein Handy und der Laufweg der anderen Pilger halfen mir am frühen Morgen verdammt gut weiter. Zusätzlich musste ich sehr aufmerksam sein, doch auf dem „richtigen“ weg zu bleiben, da es ab bzw. bis nach León einen weiteren Jakobsweg bis nach Oviedo gab. Den sogenannten „Camino del Salvador“. Die Hinweise auf dem Boden lassen sich in der Dunkelheit leicht übersehen…

Die erste Kaffeepause genehmigte ich mir gegen 09:15 Uhr. Mir machten meine rechte Hüfte und mein rechtes Knie sehr zu schaffen an diesem Morgen, weil sie mir beim Laufen sauweh taten. Erklären konnte ich es mir nur durch die Dauerbelastung oder eine falsche Haltung, die ich unbewusst angenommen hatte. Da erst einige km hinter mir lagen, versuchte ich die Schmerzen so gut es ging auszublenden. Mein heutiges Tagesziel sollte Villavante werden. Das kleine Dorf lag knapp 29 km von León entfernt und so hatte ich zumindest vor noch eine ganze Weile unterwegs zu sein. Villavante ist im Reiseführer nicht als das klassisch Etappenziel gekennzeichnet. Ich wollte etwas raus aus den Pilgermassen, die sich doch fast immer an den im Buch vorgeschlagenen Orten halten. Mittlerweile traute ich mir öfter zu eher unkonventionell zu planen.
Als ich weiterging, griff ich zum Telefon und rief eine sehr gute Freundin in Bochum an. Wir unterhielten uns über den Weg, das bisher Geschehene und auch die Möglichkeit über Santiago hinaus bis ans Meer nach Finisterre zu gehen. Zeitlich würde das alles passen, da ich mir ja genug Urlaub genommen hatte. Ich machte ihr allerdings klar wie ich mich zurzeit fühlte und dass ich mir das in meiner momentanen Verfassung absolut nicht vorstellen könnte. Versprach ihr aber, den Gedanken noch etwas reifen zu lassen. Bis Santiago war ja noch etwas Zeit…
Sie hatte mit ihrer Argumentation natürlich völlig Recht, indem sie mich fragte wann ich wohl zum nächsten Mal die Gelegenheit nutzen würde, um von Santiago bis ans Meer zu wandern. Aber aktuell fühlte ich mich alles andere als wohl in meinem Körper. Nach dem Telefonat war es Zeit für eine weitere Pause. So gönnte ich mir zum Mittag ein Bier und legte die Füße auf einen Stuhl um etwas zu entspannen. Die Schmerzen in der Hüfte und dem Knie ließen etwas nach.

Ich ließ Villavante, mein eigentlich geplantes Tagesziel, hinter mir. Mich zog es, trotz der Schmerzen die ich hatte und immer noch teilweise verspürte weiter. Bis zum nächsten etwas größeren Ort, Hospital de Órbigo waren es nur noch knapp 6 Km. Die Wahl auf die heutige Herberge fiel durch ein Gespräch das ich morgens mit Isabella aus Neuseeland führte. Sie berichtet mir von der Unterkunft und gab mir den Tipp, da sie viel Gutes darüber gehört hatte. Es handelte sich ebenfalls um eine Herberge in der vegetarisches Essen angeboten wurde.
Kurz vor Hospital traf ich Isabella wieder und so erreichten wir die Unterkunft, sichtlich gezeichnet von der heutigen Etappe, nach gut 35 km gemeinsam. Es war ein sehr schönes Anwesen mit großem Garten, zwei Hunden und viel Platz zum Entspannen. Im Gegensatz zu Isabella hatte ich kein Bett reserviert. Mein Glück, was freie Betten anging blieb mir jedoch treu:-). Wieder war tatsächlich noch ein Platz frei als wir zwei uns an der Anmeldung befanden.

Ich bezog mein Bett, machte mich frisch und suchte mir im Garten einen Platz in der Sonne… Etwas später fiel mir ein, dass ich noch zum Supermarkt an der Ecke musste, um für den morgigen Tag gerüstet zu sein. Mit Obst, Wasser und zwei Dosen Bier ging es wieder zurück. Da ich auf dem Gelände sonst keine Pilger entdecken konnte die etwas alkoholisches in der Hand hatten, war ich mir erst nicht sicher ob dies hier überhaupt erwünscht war. Die anderen Pilger nickten zustimmend als ich sie mit dem Bier in der Hand fragte:-) Mit einem Zisch war die Dose auf und ich legte mich wieder in die Sonne. Beim Chillen im Garten lernte ich Bea aus der Schweiz und Theresia aus dem Allgäu kennen. Die beiden kannten bereits auch Jörg und Gerd, denen sie vor einigen Tagen auf dem Weg begegneten. Wir kamen in ein lockeres Gespräch und tauschten unsere bisherigen Erfahrungen aus, schließlich waren wir alle jetzt schon fast drei Wochen unterwegs.

Auffällig war, dass in dieser Herberge fast ausschließlich deutsche Pilger eingekehrt waren. So ergaben sich im Garten viele Gespräche unter den Reisenden. Vor dem angekündigten Abendessen lernte ich noch Erika und eine Freundin von ihr kennen. Sie waren etwas älter, schätzungsweise um die 60. Ich erfuhr von Erika, dass ihre Freundin vor vier Jahren einen Herzinfarkt erlitten hatte und der Jakobsweg schon immer eines ihrer Ziele im Leben war. Sie war jedoch unsicher ob sie nach dem Infarkt noch diesen Strapazen gewachsen sei. Doch der Arzt gab ihr grünes Licht und nun konnten die beiden hier sein. Als wir auf unsere Familien zu sprechen kamen, erfuhr ich, dass Erikas Sohn ebenfalls psychisch krank war. Schon hatten wir ein Thema über das wir uns ausgiebig austauschen konnten. Die Freundin berichtete mir von einer Hellinger „Familienaufstellung“ mit der ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nichts anfangen konnte. Oftmals spielten Ahnen eine große Rolle bei Entwicklungen der zukünftigen Generationen. Häufig sind ungeklärte Verhältnisse in der Familie hierfür ausschlaggebend, so berichtete sie mir. Ich nahm mir vor mich mit dem Thema näher zu beschäftigen, wenn ich wieder zu Hause bin.
Der Nachmittag neigte sich dem Ende entgegen und damit wurde auch mein Hungerfühl spürbar größer… Vor dem geplanten Abendessen sprachen uns die Herbergsväter an und luden zu einer Zeremonie unter das neu gebaute Dach im Garten ein. Diese würde ca. 20 Minuten andauern. Neugierig von dem was uns erwarten würde, nahmen viele Pilger die Einladung an.

So saßen wir wenig später alle im Halbkreis versammelt. Ein kleines Feuer wurde angezündet. Der Sprecher begann mit einleitenden Worten auf Spanisch, die von einem Freund ins Englische übersetzt wurden. Nach den einleitenden Worten wurden plötzlich Atemübungen vollzogen, die mir doch etwas skurril vorkamen. Ich schaute Bea und Theresia an. Beide mussten sich sichtlich beherrschen, nicht in völliges Gelächter auszubrechen. Ich wollte dem Ganzen mit dem nötigen Respekt gegenübertreten, was mir allerdings mit zunehmender Dauer immer schwerer fiel.
Mein Blick streifte die Runde. Einige Pilger schlossen sich den Atemübungen an, andere schauten etwas verdutzt hinein. So wirklich verstanden hat den Zweck wohl niemand. Es wurde immer mal wieder gesprochen und teilweise auch gesungen, bevor wieder laut geamtet wurde… Aus den angekündigten 20 Minuten wurde eine geschlagene Stunde. Wir saßen während der Zeremonie alle auf kleinen Holzklötzen. Das machte die ganze Nummer zudem schwer zu ertragen. Noch bevor wir es hinter uns hatten, musste ich Mama denken, die garantiert nicht soviel Geduld aufgebracht hätte, in dieser Situation. Sie wär einfach aufgestanden und hätte gefragt: „Was soll der ganze Firlefanz hier? Ich hab Hunger, lasst uns endlich essen“.
Dann hatten wir es endlich hinter uns gebracht und es ging zum Abendessen. Vielleicht reicht mein Horizont einfach nicht für derartige Dinge aus… Aber ich war, dass ich meinen Popo von dem unbequemen Holzklotz erheben konnte… Durch die Zeremonie war es eigentlich schon viel zu spät um zu Essen, es war bereits kurz vor 21 Uhr. Ein Blick auf den reich gedeckten Tisch verriet mir jedoch, dass sich alle Köche und Helfer verdammt viel Mühe gegeben hatten. So setzte ich mich neben Bea und Theresia an den Tisch. Das Essen war grandios! Leider konnte ich nicht allzu viel davon genießen, da ich nicht mit vollgeschlagenem Bauch ins Bett gehen wollte. Wenig später lag ich im Bett.