Noch vor meinem Wecker ging es raus aus den Federn. Mein Körper hatte sich mittlerweile an die Aufstehzeiten auf dem Camino gewöhnt und holte mich so aus dem Schlaf. Es war kurz vor 7 Uhr. Eine Woche war ich nun schon unterwegs und hinter mir lagen bereits 141 km. Verrückt, wenn ich so darüber nachdachte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich mich nach der ersten Etappe fühlte und ich dachte: So, jetzt hast du ganze 25 von 800 km geschafft 🙂 *Ironie aus*. An die Gespräche der anderen Pilger konnte ich mich noch sehr gut erinnern, als diese darüber fachsimpelten, wie viele Tage sie wohl bis Santiago benötigen werden. Ich hatte dazu gar keine Meinung, für mich war das kein Wettlauf und daher völlig unwichtig. Woher sollte ich jetzt wissen wie es mir gehen wird oder welche Ereignisse mich womöglich am Weitergehen hindern könnten. Mein Limit waren einfach die sechs Wochen, die ich mir frei nehmen konnte, um hier zu sein.
Ich startete an diesem Morgen wieder allein, Janaja schien noch zu schlafen. Als ich Torres del Rio gerade verlassen wollte, sprachen mich in der Dunkelheit zwei Pilger an, die mir den Tipp gaben, doch noch in den Innenhof einer Scheune an der Ecke zu gehen. Hier würde es einen besonderen Stempel geben, der aus einem bekannten Zitat bestand. Neugierig suchte ich die besagte Scheune auf.

Übersetzt bedeutet der Stempel sinngemäß: „Du musst nicht in Eile sein um etwas zu erreichen. Das Ziel ist nicht das Ziel. Du wirst die Antworten auf dem Camino finden.“
Ich ging durch die große Holztür zu einem kleinen Tisch an dem es den begehrten Stempel gab. Nach einer kleinen Spende und einem herzlichen Muchas Gracias verließ ich den Ort ziemlich happy und dankbar, dass mich die Pilger angesprochen hatten. Nun trug ich diesen außergewöhnlichen Stempel in meinem Pilgerpass. Der Weg war bis auf ein paar kleine Steigungen und Senken sehr angenehm zu laufen. Auch heute war ich wieder in den bequemen Sneakern unterwegs. Die Wanderschuhe waren gut von außen am Rucksack befestigt. Mit Elke aus Augsburg, die ich an diesem Morgen kennen lernte, ging ich ein ganzes Stück bis wir zu einem kleinen Stand kamen, an dem es gegen eine kleine Spende Erfrischungen und Snacks gab. Den Kaffee hier hätte ich mir allerdings getrost schenken können, da er fast ungenießbar war. Aber der Camino wäre nicht der Camino, wenn er einem nach dieser Enttäuschung nicht wieder zurückgeben würde. Der Weg ging weiter in Richtung Viana. Als es heller wurde und ich mich umdrehte, konnte ich den wunderschönen Sonnenaufgang am Horizont genießen.

Der Weg führte mich weiter auf eine Hochebene. Oben angekommen entdeckte ich am Wegesrand unzählige Steinmännchen mit kleinen Botschaften, die die Pilger hier hinterließen.

Hinter dieser Hochebene ging es teils steil bergab. Ab hier zierten wieder unzählige Weinberge den Weg. In Viana, der letzten Stadt der Region Navarra, stoppte ich. Nach knapp drei Stunden Wandern war es Zeit für ein Frühstück. Gleichzeitig eine gute Gelegenheit die Füße kurz von den Schuhen zu befreien.

In der wohltuenden Pause beobachtete ich das Treiben in der Stadt, heute war Sonntag. Hier schien heute ein Fest statt zu finden. Ich erblickte eine Menge „Gestalten“ auf den Straßen. Auf meine Nachfrage stellte sich heraus, dass sich unter all den Kostümen Kinder verbargen :-). Als ich mich wieder auf den Weg machte, traf ich auf Lisa aus Bremen. Nach dem ersten Kennenlernen, unterhielten wir uns sehr schnell über psychische Erkrankungen, da sie selbst erst vor kurzem genau aus diesem Grund ein Jahr krank war. Wir tauschten uns auf Anhieb sehr offen über dieses Thema aus. Ich war dankbar, dass sie ihre Erlebnisse mit mir teilte.
Das war und ist das Besondere auf dem Camino. Fast immer lauten die ersten Sätze beim Kennenlernen: Wie heißt du? Wo kommst du her? Warum bist du hier? So kam man, wenn man wollte, sehr schnell dazu, wildfremden Menschen die persönlichsten Dinge zu erzählen. Eine Art Seelentherapie beim Wandern. Völlig normal hier auf dem Camino. Hier haben diese Dinge den Raum, ohne Scham über sie reden zu können. Ich erzählte ihr auch von meiner Situation, meinen Bruder betreffend. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten in den Erlebnissen und Erfahrungen und wie wir beide damit bisher umgegangen waren.
So unterhielten wir uns sehr lange und intensiv während wir die Region Rioja erreichten. Bei aller Ernsthaftigkeit und Wertschätzung für unser Gespräch musste ich doch hier schnell ein Foto machen.

Etwas weiter trennten sich unsere Wege wieder, da Lisa noch einen weiteren Stopp einlegen wollte. So ging ich ging weiter und kaufte mir wenige Meter später mein erstes Souvenir, noch bevor ich Logroño erreichte.

Kurz vor Erreichen der Stadtgrenze stempelte viele Jahre lang Doña Felisa die Pilgerpässe. 2002 war sie im Alter von 92 Jahren verstorben. Jetzt drückte die Tochter Maria den schönen Stempel mit der Inschrift „Higos – agua y amor“ (Feigen, Wasser und Liebe) in den Pilgerpass und verkaufte auch kleine Souvenirs. Sie begrüßte die Pilger herzlich und führte Buch über jeden der den Weg beschritt. Das Armband sollte mich ab diesem Moment bis zum Ende meines Weges begleiten. Ich erreichte Logroño und die allgemeine Herberge der Stadt. Viele Pilger waren bereits vor mir hier angekommen an dem Tag und die Herberge war noch geschlossen. So stellten wir alle unserer Rucksäcke in „Reih und Glied“ auf und warteten darauf, dass sich die Türen der Herberge öffneten.

Nach erfolgreich überstandener Wartezeit und dem Einchecken suchte ich mit einigen anderen Pilgern direkt den nächstgelegenen Supermarkt auf. Auf dem Weg dahin lief mir Ivan in die Arme, ich freute mich total ihn so unverhofft wieder zusehen. Nachdem wir gemeinsam vom Supermarkt zurück waren, standen dann auch noch Julius, Christoph und Louise in der Herberge. Die alte Truppe hatte sich wieder getroffen. Zusammen mit einigen anderen Pilgern aus Spanien, England und Deutschland verbrachten wir fast die ganze Zeit im Innenhof der Herberge. Das Wetter spielte abermals mit und es wurde ein milder Sommerabend in Logroño. Bei ausgelassener Stimmung und dem ein oder anderen Glas Rioja verging die Zeit viel zu schnell bis wir alle so langsam ins Bett mussten.
