Es war kurz vor sieben als ich die Herberge verließ. Schon ziemlich spät, für meine Verhältnisse:-). Die nassen Klamotten konnten trotz des heftigen Schauers am gestrigen Abend über Nacht vollständig trocknen. Ich war ziemlich erleichtert. Je nach Herberge und verfügbarem Trockenraum klappt das nicht überall. So verstaute ich alle Sachen wieder schön ordentlich in meinem Rucksack und ging los. Als ich Triacastela verließ, erwartete mich direkt wieder ein beachtlicher Anstieg und ich muss gestehen, dass ich so langsam die Schnauze voll davon hatte… Dieses ständige auf und ab, zerrte jetzt nach all den Tagen an meinen Nerven und meiner Laune.
Die Leichtigkeit des Seins gab es nicht mehr. Mir steckten die vielen Etappen einfach in den Knochen. Im Buch sahen die Steigungen anhand des Höhenprofiles überhaupt nicht so wild aus. Aber ich war nach über 24 Tagen bei weitem nicht mehr so belastbar wie noch zu Anfang des Weges… und der Tag hatte ja gerade erst begonnen… Hinzu kam, dass sich nach kurzer Zeit auch mein Schienbein wieder meldete und es beim jedem Schritt höllisch weh tat.

An einer der nächsten Gabelungen lernte ich Lynn aus Colorado kennen. Wir gingen das nächste Stück gemeinsam bis wir an einen etwas sonderbaren Ort kamen, an dem ich hängen blieb. So lernten wir uns kaum kennen. Lynn ging weiter und verabschiedete sich wieder von mir. Durch einen schmalen Spalt zweier großer Holztüren konnte ich Sitzmöbel, geschriebene Tafeln und Holzpaletten erkennen. Ich ging ein Stück hinein und war nun mitten auf einem Gelände, auf dem sich, nach erstem Anschein Aussteiger oder ehemalige Pilger niedergelassen hatten, um dort gemeinsam mit dem Allernötigsten zu Leben.
Es gab weder warmes Wasser noch eine richtige Toilette. In einer Scheune konnte man seiner Kreativität mit Werken oder Malen freien Lauf lassen. Ich entdeckte einen Gemüsegarten, sowie ein paar Hühner, die möglicherweise auf dem Teller landeten oder als Eierlieferant dienten. Der Ort faszinierte mich und so blieb ich eine ganze Weile hier. Neugierig sprach ich ein junges Mädel an, das gerade an mir vorbeilief. Glücklicherweise antwortete sie mir direkt auf deutsch. Sie war den Jakobsweg vor einem Dreivierteljahr selbst gegangen. Auf ihrem Weg kam sie auch hier vorbei und war dann zurückgekehrt, nachdem sie Santiago erreichte, um eine Zeitlang zu bleiben. Am nächsten Tag würde sie abreisen um ihre Eltern in Andalusien, genauer gesagt in Nerja zu besuchen. Welch Zufall dachte ich, da ich selbst schon dreimal dort war und Nerja immer als Ausgangspunkt wählte, um Andalusien zu erkunden.


Eine andere Pilgerin bot mir frisch gebackenen Kuchen und Kaffee an. Auf dem Tisch vor mir gab es auch wieder die Möglichkeit sich auf Spendenbasis mit Früchten, Wasser, Kaffee oder kleinen Snacks für den Weg einzudecken.

Eine etwas sehr sonderbare Entdeckung machte ich dann noch, aber seht selbst… 🙂

Nach dem kurzen Gespräch ließ ich eine angemessene Donativo hier und verließ diesen besonderen Ort wieder. In Google Maps zu finden unter Respira Y Disfruta.
Den Weg kennzeichneten weitere Auf- und Abstiege bis ich Calvor erreichte um eine Pause einzulegen. Zeit, um nach knapp drei Stunden meine Füße von den Schuhen zu befreien und meinem Schienbein eine Erholung zu gönnen…
Sarria erreichte ich dann knapp 1 ½ Stunden später. Der Ort wird für viele Pilger als Startpunkt gewählt um von hier nach Santiago zu gehen da Sarria etwas über 100 km entfernt liegt. Genau diese Strecke ist gleichzeitig die Minimumdistanz, die ein Wanderer zurücklegen muss, um im Pilgerbüro in Santiago die begehrte Compostela (Urkunde) zu erhalten. Vielleicht für den ein oder anderen Einsteiger eine gute Distanz sich mit dem Pilgern vertraut zu machen… Für mich ergab sich in den nächsten Tagen ein etwas anderes Bild, aber dazu später mehr…

Als ich den Vorplatz von Sarria erreichte, war das nächste Restaurant nicht weit. Die Stühle davor luden zu einer weiteren Pause ein. Nach dem ich mir ein Weizenbier bestellte, lernte ich am Tisch gegenüber sitzend, Franz und Hans aus Oberbayern, sowie wenig später Sepp aus Österreich kennen. Ich kann es an dieser Stelle vorwegnehmen… aus dem einen Weizen wurden insgesamt drei… Fast zwei Stunden verbrachten wir vier gemeinsam und so erfuhr ich u.a. warum Franz hier auf dem Weg war.
Sein Sohn kam vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben. Sein bester Freund Hans hat dann einfach irgendwann entschieden ihn mit auf den Jakobsweg zu nehmen. Franz war in dieser Zeit nicht mehr er selbst, ihm wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Sein Lebenssinn war für ihn dahin… Hans handelte einfach in dieser Situation. Auch wenn Franz damals nicht begeistert von dieser Idee war, ist er Hans heute dafür unendlich dankbar. Mir kamen ein paar Tränen, weil ich diese Geste einerseits so unglaublich toll fand und andererseits, weil ich an Micha denken musste…
23 Jahre war es jetzt her, dass mein Bruder seinen tödlichen Autounfall hatte. Ich erzählte ihnen davon. Es ist für mich heute immer noch unbegreiflich, dass so etwas geschehen darf… Dass so ein junger Mensch einfach aus dem Leben gerissen wird. Der Sonntagmorgen, als Papa in mein Kinderzimmer kam, ist mir noch so präsent. Meine Eltern hatten in der Nacht nach dem Anruf aus dem Krankenhaus nicht mehr geschlafen und Papa kam dann morgens in mein Zimmer, nahm mich in den Arm und sagte was passiert ist. Ich war noch gar nicht richtig wach, als er mir sagte, dass Micha tot sei. Er muss selbst völlig überfordert von der Situation gewesen sein. Ich nahm seine Worte zur Kenntnis, hab sie aber in dem Moment überhaupt nicht verarbeitet. Ich war wie gelähmt und ein Teil von mir hat es auch nicht geglaubt. Völlig unwirklich, saßen wir einige Stunden später im Wohnzimmer zusammen mit der Bestatterin und Mama bat mich unter Tränen, doch etwas auszusuchen, dass Micha tragen wird. Sie wollten es nicht allein entscheiden. Ich wusste überhaupt was ich da tue. Was soll ich jetzt hier aussuchen? Das ist doch gerade nur ein schlechter Film und Micha würde später wie immer mit seiner „großen Fresse“ den Raum betreten und alles wäre gut. Ich wollte einfach nur raus aus der Situation, ich konnte kaum noch atmen… Irgendwie haben wir uns dann natürlich für etwas entschieden. Ich weiß es heute nicht mehr.
Ob ich das was damals passiert ist akzeptiert habe? Nein, einfach nein. Ich lebe damit und hab gelernt damit zu leben. Meinen Eltern hat es das Herz raus gerissen. Für mich ein unvorstellbares Gefühl, wenn man seinen Sohn beerdigen muss. Nichts war ab diesem Tag für uns wie vorher. Und dann mussten wir das noch irgendwie Andy verklickern, meinem anderen Bruder, der zu dem Zeitpunkt zwei Jahre jünger als Micha war und sich seit acht Jahren in psychiatrischer Behandlung befand… Andy hatte immer zu Micha aufgesehen. So chaotisch er auch war, hat er sein Leben auf seine Art gemeistert. Andy war eher in sich gekehrt und ist allem Ärger und Stress immer aus dem Weg gegangen. Für Andy ist ein wichtiger Halt in seinem Leben einfach weggebrochen… Heute bin ich auch fest davon überzeugt, dass gerade Mama, das nie überwinden konnte und dieser Verlust meine Eltern insgesamt viele Lebenspunkte gekostet hat… Ich bin so wahnsinnig stolz auf beide! Wie sie das alles gemeistert hatten mit uns drei Jungs. Papa hat so gut wie jede Doppelschicht mitgenommen, um das nötige Geld im Haus zu haben. Sie haben mir, trotz unserer nicht immer einfachen Situation alles Wichtige im Leben vermittelt und beigebracht! Werte wie Vertrauen, Verlässlichkeit und Zusammenhalt und das es im Leben nicht immer den einfachen Weg gibt! Sie haben sich manchmal gestritten, wie die Kesselflicker… Auch wenn sie dachten ich würde es nicht mitbekommen. Aber sie waren immer ehrlich zueinander und haben diese Situationen gemeinsam durchgestanden! Danke für alles… ich liebe euch!
Wie oft mir doch heute noch Situationen einfallen, die Micha so treffend beschreiben. Ein Stehaufmännchen vor dem Herrn, der bei so gut wie jeder Scheiße „hier“ geschrien hat. Meistens spontan und ohne viel Nachdenken handelte. Das betraf sowohl den nächsten Klamottenkauf, als auch mal eine Heirat. Bei der die Frau mit zwei, ich darf es heute sagen, Rotzblagen daher kam und sich ihr Ex währenddessen im Knast befand. Stilsicher aus seiner Sicht, war Micha jedoch beim Haarschnitt. Für alle, die sich heute noch an den jungen Andre Agassi erinnern können… Der buschige Vokuhila, mit dem mein Bruder dann bei meinen Eltern erschien, trieb sie regelmäßig, besonders Papa in den Wahnsinn… 🙂 Arbeit? Ja klar! Aber verlor er schonmal schnell das Interesse vom einen auf den anderen Tag oder nahm es mit der Regelmäßigkeit nicht so ernst… Bei allem was er sonst tat und möglicherweise schief lief, schüttelte er sich dreimal und machte weiter. Sehr beneidenswert und das meine ich ohne Ironie!! Geld was er noch nicht besaß, hatte er schon längst ausgegeben… Die hitzigen Diskussionen mit Papa klingeln mir heute noch in den Ohren… 🙂
Da wir altersmäßig neun Jahre auseinander waren, hatten wir quasi erst kurz vor seinem überraschenden Tod ein richtig gutes Verhältnis zueinander. Ich war 17 Jahre jung als er starb und als Bengel existierte ich vorher nicht wirklich in seinem Universum. Naja, ganz unbeteiligt war ich an meiner damaligen Unbeliebtheit wenn ich daran denke, dass ich Micha und Andy, regelmäßig verpetzt hab, wenn die zwei z.B. heimlich geraucht hatten. Die waren aber auch selbst schuld 🙂 warum nahmen sie mich auch nie mit, wenn die sich mit gleichaltrigen trafen… *grins*
Als ich erwachsener wurde, bekamen wir zwei einen ganz anderen Draht zueinander. Und kurz darauf, war er dann von einem auf den anderen Tag nicht mehr da… Ich hab trotzdem viel von ihm und seiner Art behalten und aus dem was passiert ist viel für mich gelernt.
Die vorher so fröhliche und ausgelassene Stimmung wechselte zwischenzeitlich in Betroffenheit und Mitgefühl. Aber gerade das war das Tolle auf dem diesem Weg. Wildfremde Menschen nehmen Anteil und haben ein offenes Ohr… Das Mitgefühl war quasi greifbar!
Wir erhoben gemeinsam unsere Gläser, waren in Gedanken bei unseren Liebsten und stießen auf sie an.
Da meine Etappe nicht in Sarria enden sollte, wurde es langsam Zeit sich wieder auf den Weg zu machen. Franz und Hans hatten sich hier für die Nacht bereits einquartiert. Sepp wollte ebenfalls noch weiter. Wenn wir heute noch eine Unterkunft in einem anderen Ort bekommen wollten, müssten wir jetzt wirklich los. Unter allen Umständen wollte ich es vermeiden in Sarria zu bleiben, auch wenn mir die gemeinsame Zeit mit den Jungs, gerade verdammt gut tat. Ich hatte im Vorfeld viel über den „Sturm der Massen“ gelesen, der ab hier Richtung Santiago aufbricht. Ich war nicht scharf drauf das zu erleben…
Da Sepp des Spanischen sehr mächtig war, griff er kurzerhand zum Telefon und und reservierte, soweit ich das verstehen konnte, in einer kleinen Pension in Barbadelo ein Zimmer für uns. Das bedeutete für uns ab hier noch eine gute Stunde Fußweg. Sepp schaffte es und konnte uns ein Zimmer mit zwei Einzelbetten reservieren. Ohne mir weitere Gedanken über Sepp zu machen, stimmte ich dem zu und wir zogen los.
Also hieß es für uns, Schuhe an, Rucksack auf und los… Nach den drei Bierchen fiel uns der Weg durch die Mittagshitze sichtlich schwer… Vorteil war, ich war zu abgelenkt und hatte gerade keine Schmerzen:-) Wir erreichten Barbadelo und die Casa de Carmen. Ein uriges altes Häuschen mit nur wenigen Zimmern. Nach dem Einchecken richteten wir uns kurz in unserem Zimmer ein, nahmen eine Dusche und trafen uns im Garten der Anlage wieder, um den Nachmittag ausklingen zu lassen.

Mit Sepp teilte ich mir noch eine Flasche Rotwein bevor sich alle Pilger zum Abendessen in der Herberge einfanden. Uns standen zwei Menüs zur Auswahl. Nach dem richtig guten Essen und ein paar zwanglosen Unterhaltungen zog es mich dann aber ins Bett. Sepp würde morgen ausschlafen und blieb daher noch länger.