Um 06.20 Uhr wurde ich wach und packte mit dem Handylicht leise meine Sachen zusammen, um aus dem Zimmer zu schleichen. Der alte Holzboden knarzte bei jedem meiner Schritte. Ich hoffte, dass ich Sepp dadurch nicht wecken würde. Sein Schlaf war jedoch noch tief genug :-). Ich ließ meine Sachen alle im Flur liegen, ging ins Bad und putzte mir die Zähne. Noch kurz frisch gemacht, dann zog ich mich um und war wenige Minuten später startklar. Sepp´s Etappe würde heute nicht ganz so lang sein, wie die meinige. Als ich die Holztür des Hauses von außen schloss, entdeckte ich dichten Nebel. Mit eingeschaltetem Licht ging es auf den Weg. Der Camino zog sich anfangs durch kleine, malerische Siedlungen. Weiter ging es im Wechsel von Feldern, Weiden und Dörfern… Der Tag begann so langsam zu erwachen. Die Täler auf die ich blicken konnte, waren alle noch wolkenverhangen.

Wenn ich beim Wandern so in meinen Körper rein hörte, spürte ich, dass ich morgens nicht mehr mit 100% in den Tag startete. Der bisherige Weg hatte ordentlich an meinen Reserven geknabbert und die wurden mittlerweile nicht mehr komplett über Nacht aufgefüllt… Um kurz nach 8 Uhr passierte ich den berühmten Wegstein km 100.

Seitdem ich in Galizien war, zierten diese Wegsteine den Camino. Auf ihnen waren die noch verbleibenden Kilometer bis Santiago angegeben. Ich blieb stehen und konnte es fast nicht glauben, dass es ab hier nur noch drei oder vier Tage wären, bis ich die Kathedrale erreichen würde. Nach meiner ersten Etappe damals dachte ich noch, super Stephan, 25 km sind heute geschafft:-) 25 von knapp 800… Und jetzt war es wirklich nicht mehr weit. Mich überkam Freude und eine gewisse Traurigkeit, da das Ende in Sicht war…
Nach knapp drei Stunden Gehzeit gönnte ich mir eine erste Pause und eine weitere zwei Stunden danach. 18 km hatte ich bisher hinter mir gelassen… Jetzt war ich kurz vor Portomarin, einst einer der blühendsten und reichsten Orte Galiziens, bevor das Dorf im Wasser verschwand. Das heutige Portmarin ist ein Produkt aus den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts.

Da es bereits kurz vor Mittag war, reservierte ich mir sicherheitshalber per Telefon ein Zimmer in Airexe. Dieser Mini-Ort verfügte nur über eine Pension und eine Herberge. Ja, ihr habt richtig gelesen! Ein eigenes Zimmer! Nach den vielen Nächten in den zahllosen Herbergen, (den gestrigen Tag einmal ausgenommen), hatte ich genau darauf jetzt bock. Auf dem Weg zum Etappenziel wollte ich nicht hoffen und bangen, ein Bett zu bekommen. In den meisten Orten oder Städten war dies nie ein Problem, aber hier wollte ich sicher gehen. Bei meinem zweiten Stop traf ich Justyna aus Frankreich und Leo aus Aachen, welcher nicht zu übersehen, Gladbach Fan war… Er trug eine Jacke mit dem Logo des Vereins. Wir unterhielten uns über die Rivalität zwischen unseren beiden Vereinen, nahmen das Ganze aber auch nicht so bierernst. Ich erfuhr von ihm, dass er zum zweiten Mal auf dem Jakobsweg war. Letztes Jahr schaffte er es in drei Wochen von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Sahagún. Dieses Jahr wollte er den Weg bis Santiago vollenden. Nach dem kurzen Smalltalk zog ich weiter. Es war noch ein gutes Stück bis Airexe.

Täglich spürte ich meine Füße, immer wenn ich ein gewisses Laufpensum hinter mich gebracht hatte. Der Wille weiter zu gehen, trieb mich aber immer wieder an. Nach den heutigen 35,1 Km erreichte ich mein Etappenziel (25 Einwohner laut Reiseführer). Die Pension war schnell gefunden, da diese direkt an der einzigen Straße lag, die durch den Ort führte. Ich freute mich tierisch endlich wieder ein eigenes Zimmer zu haben. Ohne Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Einfach den Rucksack in die Ecke zu knallen und sich frei bewegen zu können. Die Dusche war zwar auf dem Flur, aber da hier so gut wie niemand einkehrt war, hatte ich keinen Stress und konnte gehen wann ich will… Nachdem ich meine Klamotten per Handwäsche gereinigt hatte, ging es in den Außenbereich der kleinen Bar gegenüber.

Hatte heute Bock auf einen Burger, nachdem ich meinen Blick über die Speisekarte schweifen ließ… na klar, auch auf ein Bier. Christian, der Kroate, den ich bestimmt vor zwei Wochen kennengelernt hatte, gesellte sich zu mir. Wir stießen gemeinsam an und unterhielten uns über unsere Erfahrungen der vergangenen Zeit. Auch so ein Ding auf dem Camino. Wir hatten uns in der ganzen Zeit nicht wiedergesehen beim Wandern und trafen uns jetzt in dem Kaff hier… Uns entging nicht, dass schräg gegenüber von uns zwei attraktive Mädels saßen. Wir kamen ins Gespräch und lernten so Hanna aus Stuttgart und Marlene aus Berlin kennen. Nach kurzer Unterhaltung zückte Marlene eine Gitarre, die sie in León für 30 Euro erworben hatte und fing an darauf zu spielen und dabei zu singen. Man, sie hatte eine verdammt tolle Stimme.
Nach den „The Crawnberries“ stimmte sie plötzlich Hallelujah an. Spontan griff ich zum Handy und fing an sie dabei zu filmen. Sie hatte nichts dagegen. OMG dachte ich einfach nur… Während sie spielte, bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut und mir liefen die Tränen. Was Marlene natürlich wissen konnte war, dass das Mamas Lieblingslied war. Das Lied, was wir noch vor vier Jahren auf ihrer Beerdigung gehört hatten…
Und jetzt hier auf dem Jakobsweg in dem kleinen Kaff Airexe, gespielt von Marlene aus Berlin. Spätestens jetzt wusste ich, dass Mama bei mir war…
Nach den gestrigen sehr emotionalen Momenten in Sarria, folgte heute direkt der Nächste… Nach diesen für mich sehr speziellen fünf Minuten, bedankte ich mich etwas verheult bei ihr und bestellte Christian und mir noch ein Bier. Das Abendessen nahmen wir zwei in Bar ein, da es so langsam etwas kühl wurde. Die beiden Mädels zogen sich kurze Zeit später in die Herberge zurück. Nach unserem leckeren Essen verabschiedete ich mich gegen 21 Uhr von Christian und suchte meine „Residenz“ für die Nacht auf:-)