Tag 28: Boente – Santiago de Compostela

Meine Uhr weckte mich zuverlässig um 6 Uhr und schon 20 Minuten später verließ ich die Herberge. Der Schwabe von gestern Abend war anscheinend noch vor mir los, sein Bett sah verlassen aus und ich hatte ihn bisher nirgends entdecken können. So nahm ich meinen Rucksack, um mir im Erdgeschoss des Gebäudes die Schuhe anzuziehen.  Genau da passierte es, der Typ war gerade dabei sich fertig zu machen, mit seiner Kopfleuchte und den Gehstöckern. So ein Scheiss, dachte ich und ließ mir absichtlich noch etwas mehr Zeit. Ich wollte mit dem Experten nicht zusammen die Herberge verlassen. Als er sich auf den Weg machte, erkannte ich ihn kurze Zeit später nur noch anhand seiner nicht übersehbaren Kopfleuchte :-), die in gebührendem Abstand vor mir nach links und rechts wackelte… Gott sei Dank.

Nach knapp einer dreiviertel Stunde und kurz hinter dem kleinen Ort Castañeda traf ich noch im Dunkeln auf eine deutsche Familie. Mit dem 20jährigen Sohn Jonas unterhielt ich mich eine ganze Weile. Wir waren etwas schneller unterwegs und so den anderen immer ein Stück voraus:-). Er erzählte mir, dass seine Mutter diese Reise schon länger machen wollte und diese von langer Hand geplant hatte. Er und seine Schwester fanden die Idee erst nicht so toll, mussten aber zugeben, dass es ihnen jetzt sehr gut gefällt…

Am morgigen Dienstag feierte sie ihren 50. Geburtstag und das wollte sie gemeinsam mit ihrer Familie in Santiago tun. Was für eine coole Idee dachte ich! Sie war wie ich in SJPDP gestartet und ihre Kinder Jonas und seine Schwester kamen in Sarria dazu… (Ja genau in dem Ort, wo auch alle, wie ich sie nannte, Touristenpilger starteten:-) Diese Wanderung hatte jedoch einen ganz anderen Hintergrund und ich fand diese Idee großartig. Jonas wohnte in Darmstadt und arbeitete bei der Werksfeuerwehr einer großen Chemiefirma. Beim Thema Fußball musste er passen, seine Leidenschaft gehörte dem American Football, wo wiederum ich nicht mitsprechen konnte 🙂 Da wir seiner Mutter und seiner Schwester etwas enteilt waren, stoppte er nach einiger Zeit um auf sie zu warten. Ich verabschiedete mich von Jonas, bedankte mich für den kurzen Einblick in sein Leben und setze meinen Weg fort.

sehr einladend für einen Stopp das Café

Eine dreiviertel Stunde später gönnte ich mir eine erste Kaffeepause, um darüber nachzudenken, wo meine heutige Etappe heute enden soll, bevor ich morgen Vormittag Santiago erreichen werde. Ab Boente waren es immerhin noch gute 50 km bis zur Kathedrale… Fürs erste ging ich weiter und machte gute drei Stunden später einen weiteren Stopp. Auch weil sich mein rechtes Schienbein mal wieder bemerkbar machte und mir höllisch weh tat.

Während meiner Pause erreichte mich eine WhatsApp von Bea und Theresia. Die beiden schrieben mir, dass sie in Santiago angekommen waren. Es war jetzt ca. 14 Uhr und vor mir lagen noch über 15 km bis dorthin. Also umgerechnet mindestens noch drei Stunden reine Gehzeit… Trotzdem hatte mich ab diesem Moment der Ehrgeiz gepackt. Ich rief in dem Hostel an, indem Bea und Theresia sich einquartiert hatten. Tatsächlich hatte ich wieder Glück:-) und konnte ein Bett reservieren. Mit den Gedanken im Kopf heute noch ein gutes Stück vor mir zu haben, war ich dann wohl so abgelenkt, dass ich vom Weg abkam… Anders konnte ich mir das nicht erklären. Nach einiger Zeit erst stellte ich fest, dass hier jeder Hinweis auf einen gelben Pfeil, eine Jakobsmuschel oder andere Pilger fehlte. Ich nahm mein Telefon zur Hand und versuchte mich so wieder zurück auf den Weg zu orten. Zu dem Zeitpunkt befand ich mich bereits am Fahrbahnrand einer viel befahrenen Straße. Ich war schon zu weit „falsch“ gelaufen, als das sich ein Zurückgehen lohnen würde. Dies würde meinen Weg nur unnötig verlängern, dachte ich.

So biss ich in den sauren Apfel und ging an der Leitplanke der Straße entlang… Nicht ganz ungefährlich, da die Autofahrer an dieser wie sich jetzt herausstellte, Bundesstraße, nicht mit Pilgern rechneten… An Stellen wo der Weg sonst an Straßen entlang führte, waren immer Warnschilder mit dem Hinweis auf Pilger angebracht. Hier suchte man diese vergeblich.

Eine ganze Stunde lang bretterten die Autos und LKWs an mir vorbei und ich war heilfroh endlich an einem Café neben der Straße anzukommen. Total erleichtert legte ich meinen Rucksack vor dem Gebäude ab, zog erstmal meine Schuhe aus und legte die Beine hoch. Der Blick auf die Karte verriet mir, dass ich tatsächlich nur noch schlappe 5 km von Santiago entfernt war. Zur Stärkung gönnte ich mir (wie ihr euch bestimmt denken könnt) ein großes Bier und genoss draußen sitzend im Schatten meine Pause.

Auf geht’s Stephan, dachte ich! Eine gute Stunde noch bis Santiago. Der Reiseführer schlägt den Pilgern vor, in Monte de Gozo, wo ich mich gerade befand, Halt zu machen um am nächsten Morgen nach Santiago „einzulaufen“. Für mich kam das jetzt so kurz vor dem Ziel nicht mehr in Frage. Zumal ich mich drauf freute, den Abend mit Bea und Theresia verbringen zu können. Wir hatten uns ne ganze Weile nicht gesehen. Die letzten km waren wegen der Schmerzen und der vielen Stunden die ich heute auf den Beinen war die Hölle… ein Lächeln fiel mir gerade sehr schwer. Ich erreichte den Stadtrand von Santiago und konnte bereits jetzt die beiden Spitzen der Kathedrale erkennen. Ab jetzt hieß es „nur“ noch Zähne zusammen beißen, um die letzten paar hundert Meter durch die Stadt zu meistern. Es war 17:30 Uhr als ich durch den Torbogen neben der Kathedrale schreitete. Vorbei an dem Vorplatz an dem sich alle Pilger in den Armen liegen und ihre Ankunft feierten. Mir war alles andere als nach feiern… Die Etappe hatte mich völlig fertig gemacht. Nach 11 Stunden und unfassbaren 49,7 km stand ich vor meiner Unterkunft. Soviel, wie ich zuvor noch nie an einem Tag auf dem Camino hinter mir gelassen hatte. Das war heute eine reine Willensleistung…

Das Hostel lag nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt in einer Nebenstraße. So ging es für mich schnurstracks dorthin. Nach diesem langen Tag, wollte ich einfach nur noch raus aus den Schuhen, Duschen und ein am besten eiskaltes Bier. Gegenüber vom Hostel befand sich ein kleines Restaurant wo ich mich nach meinen Waschungen, ohne zu übertreiben, gerade so hinschleppte. Im Außenbereich gab es noch frei Plätze. Bea und Theresia schrieben mir, dass sie auf dem Weg zu mir waren. Ich freute mich total die beiden wiederzusehen. Wir fielen uns in die Arme und stießen gemeinsam auf unseren Erfolg, es bis nach Santiago geschafft zu haben. an

Da so sitzend merkte ich, dass mir jetzt alles weh tat, was einem so weh tun kann und ich hatte keinen Bock mehr, mich auch nur noch einen Meter zu bewegen. Ich spürte vom Kopf bis zum Zeh jeden Muskel :-). Gerade als ich dies zu Ende dachte, warfen die beiden die glorreiche Idee in die Runde, doch heute noch ins Pilgerbüro zu gehen, damit wir unsere Compostela in Empfang nehmen könnten. Morgen Vormittag wäre der Andrang und die Wartezeit bestimmt viel höher. Mir fiel in diesem Moment fast alles aus dem Gesicht… aber vermutlich hatten die beiden recht und morgen würde ich es ihnen danken. Also ging es mit langsamen Schritten ins Pilgerbüro. Die Schlange dort war zum Glück sehr überschaubar an diesem Montagabend.

Warten auf die Compostela

Nur eine knappe halbe Stunde dauerte es, bis wir unsere voll gestempelten Pilgerpässe vorlegen konnten, um dann endlich das lang ersehnte Schriftstück in unseren Händen halten zu können.

Die lang ersehnte Compostela!

Es war nicht unüblich, dass die Pilger hier mehr als zwei Stunden anstehen mussten… Behördenromantik halt. Wir gingen zurück in das kleine Restaurant und ließen den Abend gemeinsam ausklingen. Gegen 22 Uhr landete ich kaputt wie Hund in meinem Bett. Jetzt hatte ich Santiago nach sage und schreibe 28 Tagen erreicht, obwohl es nie mein Plan war in einer bestimmten Zeit hier anzukommen. Der Weg hatte mich immer wieder angezogen wie ein Magnet, egal wie ich mich tagsüber gefühlt hatte. Am nächsten Morgen gab es immer nur diesen eine Gedanken… Weitergehen. Ich konnte der Stadt und der Kathedrale heute nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, dafür war ich einfach zu k.o…

Am nächsten Tag werden wir versuchen einen Platz in der Kathedrale für die anstehende Pilgermesse zu ergattern!

Außerdem hatte ich mich dazu entschieden, meinen Weg bis zum Meer fortzusetzen…

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