Tag 6: Estella-Lizarra – Torres del Rio

Heute ging es um kurz nach 7 Uhr los. Der Regen, der zum Abend eingesetzt hatte, hörte zum Morgen hin wieder auf. So fand ich wieder perfekte Bedingungen vor, um zu starten. Die Luft war herrlich frisch und klar. Wie angekündigt, wechselte ich meine Schuhe und trug nun die viel bequemeren und leichteren Sneaker. Ein großartiges Gefühl. Die Bergwanderschuhe hatten mich sicher über die Pyrenäen gebracht, waren aber für das flachere Gelände einfach überdimensioniert. Da diese nicht in den Rucksack passten, kamen sie kurzerhand von außen an selbigen. An zwei Karabinerhaken befestigt, schnürrte ich beide Schuhe fest zusammen, damit diese nicht beim Laufen hin und her baumelten. Der Weg zog sich fast durchgängig durch ebenes Gelände, entlang an einigen Straßen und abgeernteten Getreidefeldern. Ich dachte darüber nach, wie es wohl war im Winter oder Frühjahr zu pilgern und sich auf völlig andere Bedingungen einzustellen zu müssen. Dagegen hatte ich im Spätsommer schon fast perfekte Voraussetzungen, zumindest empfand ich das bis jetzt so. Beim Betrachten des Feldes kam mir der Gedanke ob sich hier etwa schon die Iberische Meseta ankündigte? Im Wanderführer hatte ich einiges darüber gelesen und auch einen gewissen Respekt vor diesem Teil des Camino.

herrliches Morgenpanorama als die Sonne aufging

Mein Wasservorrat vom Morgen ging nach ca. zwei Stunden dem Ende entgegen, als ich passenderweise einen Brunnen entdeckte. Auf die erste Freude folgte jedoch die Enttäuschung, da aus diesem kein einziger Tropfen mehr zu ergattern war. So ging es erst einmal ohne Wasser weiter.

Der Weg führte mich weiter durch einige Weinberge und auf gut zu laufenden Schotterwegen. Die Luft war trocken und die Sonne zeigte wieder einmal welche Kraft auch im September noch in ihr steckte, als sie bereits hoch am Himmel stand. Auf Sicht war jetzt weit und breit kein Ort zu erkennen. Ich wurde etwas unruhig und bekam so langsam richtig durst. Aber der Camino wäre nicht der Camino wenn er nicht immer wieder eine Überraschung bereithält. Wie aus dem Nichts erschien nach der nächsten Abbiegung eine kleine „Oase“. Ein Verkaufswagen mitten im Nirgendwo.

Ein Verkaufswagen mitten im Nirgendwo

Total erleichtert steuerte ich direkt darauf zu und ließ meinen Rucksack an einem Tisch auf den Stuhl plumpsen. Gerade in den ersten Tagen hatte ich das Gefühl, jedesmal wenn ich den Rucksack absetzte, wieder einige Zentimeter gewachsen zu sein :-). Ich war der Empfehlung gefolgt und schleppte täglich so ca. 10% meines eigenen Körpergewichts mit mir rum. Heißt im Umkehrschluss, dass mein Rucksack ca. 8,5 kg schwer war. Das Baguette, der O-Saft und der Kaffee schmeckten grandios und waren eine Wohltat nach den ersten Stunden. Ich befreite meine Füße von den Schuhen und legte diese erstmal hoch. Es verging eine ganze Weile. Ich beobachtete die vorbeiziehenden Pilger, als ich Julius und Janaja am Weg entdeckte. Sie kamen auf mich zu und ließen sich ebenfalls für eine Pause nieder. Wir genossen unser schattiges Plätzchen gemeinsam. Mit aufgefüllten Wassertanks ging es gemeinsam weiter. Als wir an einigen Weinbergen in der Region Navarra entlang kamen, konnten wir nicht widerstehen und griffen zu.

Süße Trauben am Wegesrand in der Region Navarra

Wir erreichten noch vor 12 Uhr mittags und nach knapp 23 km Los Arcos. Unbewusst hatten wir gemeinsam richtig gut Tempo gemacht auf den zurückliegenden Kilometern. Im Ort angekommen, fanden wir auf dem Marktplatz neben der schönen Kirche einen freien Tisch und ließen uns nieder. Julius griff zum Telefon und rief seine Eltern an um ein Lebenszeichen in die Heimat abzugeben. Ich nutzte die Gelegenheit, um am nächsten Geldautomaten meinen Bargeldbestand wieder etwas aufzufüllen.

Er beschloss es für heute gut sein zu lassen und blieb in Los Arcos. Mich zog es noch etwas weiter. So begleitete er mich ein Stück aus der Stadt heraus bis zu seiner Herberge und wir verabschiedeten uns. Janaja hatte sich ebenfalls schon vor mir auf den Weg gemacht. Auf dem Weg nach Torres del Rio schnappte ich mir ebenfalls mein Telefon und rief einen guten Freund in Bochum an.

Immer auf den gelben Pfeil achten. Auf dem Weg nach Torres del Rio

Meinen Erzählungen und Erlebnissen konnte er zwar folgen, sich aber selbst nicht vorstellen, sich täglich derartigen Anstrengungen zu unterziehen. Ganz zu schweigen von den Massenherbergen und der fehlenden Privatsphäre. Er bewunderte mich für das was ich tat. Noch vor Torres del Rio holte ich Janaja ein und wir erreichten gemeinsam den Ort. Nun waren es heute 30 km geworden und es war definitiv die richtige Entscheidung auf die Sneaker zu wechseln. Ich hatte viel weniger Schmerzen an den Füßen als in den vergangenen Tagen. Nach diesem Marsch entschieden wir uns direkt für die erste Herberge im Ort auf die wir zuliefen. Beim „Check in“ im Hostal Rural San Andres entdeckte ich im Innenhof einen Pool und ließ meinen Blick über die kleine Anlage schweifen.

Im Eiltempo bezog ich mein Bett und holte die Badeshort aus meinem Rucksack. Das Wetter war immer noch überragend.

Tom aus Osnabrück saß ebenfalls am Pool. Wir machten uns bekannt und tranken das ein oder andere Bier zusammen. Er war schon etwas länger auf dem Camino unterwegs und seine Tagesetappen waren wesentlich kürzer als meine. Es war mal wieder sehr angenehm sich auf Deutsch unterhalten zu können. Der Sprung ins kalte Nass war Belohnung für die heutige Wanderung. Der Nachmittag verging wie im Flug. Nach einiger Zeit spürte ich dann doch, dass mir der Weg in den Knochen steckte. Ich fühlte mich einfach körperlich platt. So verabschiedete ich mich von Tom, zog mich vor dem Abendessen aufs Zimmer zurück und haute mich ne Runde aufs Ohr.

Pünktlich zum Abendessen holte mich meine Uhr aus dem Schlaf und es ging in das Restaurant des Hostels. Neben mir und Tom saßen noch Pilger aus Dänemark und Frankreich am Tisch, sodass wir durchgängig englisch sprachen. So interessant es auch war, so anstrengend war es teilweise bei so vielen Leuten dem gesprochenen Wort folgen zu können und zu verstehen. Der Abend klang bei einem leckeren Essen und gutem Rotwein langsam aus.

Tag 5: Puenta de la Reina – Estella-Lizarra

Auch an Tag 5 ging es wieder um die gewohnt frühe Zeit los. Im Vorraum der Herberge traf ich viele aus unserer Gruppe wieder (Louise, Julius, Ivan und Chris). Alle waren dabei sich startklar zu machen. Schuhe schnüren, Rucksack auf und los. Ich entschloss mich jedoch heute allein zu starten. Es fühlte sich irgendwie richtig an nicht mit der Gruppe zu gehen, obwohl mir alle in den letzten Tagen ziemlich ans Herz gewachsen waren. Wir hatten unsere Nummern getauscht und so verließ ich die Herberge. Ich kann es nur so beschreiben, dass mich der Camino wie ein Magnet anzog und er allein entdeckt werden wollte, oder mit weiteren Weggefährten. Nach einigen Kilometern sah ich die Sonne am Horizont langsam aufgehen als mich der Weg ein Stück an der Autobahn entlang führte.

Sonnenaufgang entlang der Autobahn

Etwas später säumten dann Weinberge und Olivenbäume den Weg. Es ging bisher nur leicht bergauf und bergab und es war kein Vergleich zu den ersten Etappen. Gerade als ich das laut gedacht hatte, wartete jedoch die erste Herausforderung des Tages auf mich. Es ging über eine alte Römerstraße kurz hinter Cirauqui.

Volle Aufmerksamkeit und festes Schuhwerk um nicht umzuknicken

Nachdem ich diesen Part gemeistert hatte, schoss mir der Gedanke in den Kopf, dass ich jetzt nach den ersten Etappen schon nicht mehr wusste, welchen Wochentag wir haben. Verrückt, dachte ich und gleichzeitig ein befreiendes Gefühl. Als Pilger verlief im Grunde jeder Tag gleich und es spielte überhaupt keine Rolle ob Montag oder Sonntag war, das wurde mir jetzt bewusst. Hinzu kam, dass ich mein Social Media (Facebook und WhatsApp) seit Beginn des Weges von meinem Smartphone verbannt und deinstalliert hatte. So wurde ich nicht von Messages hier und da abgelenkt und nur angerufen, wenn es wirklich etwas Wichtiges gäbe.

Hinter dieser Römerstraße erschien eine Anhöhe, auf der es wieder ein paar Erfrischungen (Obst und Kaffee) gegen eine kleine Spende für die Pilger gab. Ich hatte auf dem bisherigen Weg immer das Gefühl, an jeder Stelle des Weges versorgt zu sein, auch wenn man am Morgen einmal nicht ausreichend Proviant mitgenommen hatte. Lorca, nach ca. 14 km, war mein erster Stopp an diesem Tag. Die Tortilla mit Kartoffeln und Gemüse, der Café con leche und der so unfassbar leckere frisch gepresste Orangensaft waren nach knapp 3 ½ Stunden ein Hochgenuss. Jeden Tag aufs Neue konnte ich mich so nach den ersten zwei oder drei Stunden des Wanderns belohnen und freute mich immer schon am Morgen auf diesen ersten Stopp.

Mein Appetit ließ jedoch generell nach den wenigen Tagen tagsüber schon deutlich nach, obwohl ich mich ja durch den Weg immensen und nicht gewohnten Belastungen aussetzte. Mein Wunderwerk Körper stellte sich wahnsinnig schnell auf die veränderten Bedingungen ein und passte sich an. Leichte Mahlzeiten und auf genug Flüssigkeit achten waren das Gebot. Ich merkte auch, dass ich mich jetzt, nach den ersten paar Tagen viel seltener mit anderen Pilgern beim Wandern unterhielt als noch zu Beginn des Caminos.

Dezenter Hinweis auf die noch vor mir liegende Strecke

Ich wollte einfach nur wandern, den Weg erkunden und die Situation genießen wie sie gerade war. Möglich, dass mir dadurch gerade interessante Gesprächspartner aus allen Ecken der Welt entgangen waren, aber ich wollte jetzt lieber bei mir sein. Meine Gedanken waren ganz bei mir und dem Weg. Es war erstaunlich, mit meinen täglichen Aufgaben, morgens an alle meine Sachen zu denken, die in den Rucksack mussten, den gelben Pfeilen oder Hinweisen am Weg folgen und einen Platz für die Nacht zu finden, war ich total beschäftigt und ausgelastet. Kein Gedanke an zu Hause und den Problemen oder Schwierigkeiten die mich sonst begleiteten.

Die Strecke war heute nicht besonders lang (21,8 km), aber ich spürte meine Füße wieder deutlich. Gut möglich, dass es an den schweren Bergschuhen lag mit denen ich täglich unterwegs war. So beschloss ich, diese ab dem nächsten Tag zu wechseln und gegen meine Sneaker zu tauschen. Estella-Lizarra war erreicht. Nach dem Zimmerbezug und Duschen traf ich Julius und Janaja wieder. Die beiden hatten auf dem Weg noch zwei Franzosen kennengelernt. Wir zogen gemeinsam los in die Stadt. Ganz in der Nähe sollte es einen Salzwasserbrunnen geben, den wir suchten und auch fanden. Wir blieben eine Weile dort, ehe es uns in den angrenzenden Park zog, nicht zuletzt durch die Musik die von weitem hörbar war.

Ich ging zur Bar und besorgte uns ein paar kalte Biere. Wir suchten uns ein schattiges Plätzchen um Karten zu spielen. Die beiden Franzosen erklärten uns das Spiel, welches sie zu Hause so gerne spielten. So verging die Zeit sehr schnell und wir mussten uns bald wieder auf den Weg machen wenn wir etwas zu Abend essen wollten. Julius, Janaja und ich entschieden uns für die Bar gegenüber unserer Herberge. Als wir gerade im Außenbereich Platz genommen hatten, setzte ein heftiger Platzregen ein. Durch das Zeltdach geschützt, genossen wir den Anblick auf den nahe liegenden Fluss und den prasselnden Regen. Nach dem Essen ließen wir den Abend in der Herberge ausklingen bevor es für alle ins Bett ging.  

Geschützt unterm Zeltdach bei einsetzendem Regen

Tag 4: Pamplona – Puenta de la Reina

Unsere Körper hatten sich in der Nacht bestens repariert. So konnten wir nach einem kleinen Frühstück in der Bar Leo gegenüber der Herberge starten. Es war kurz nach 7 Uhr. Der Weg führte uns noch eine Weile durch die Stadt, bevor es wieder leicht bergauf ging. Der Windpark auf dem Bergkamm war schon von weitem gut zu erkennen. Da ich mich an diesem Tag körperlich richtig gut fühlte, enteilte ich den anderen mit jedem Schritt.  Ein paar km weiter traf ich in einem Café „Spider“ wieder, die sogar noch vor unserer Gruppe los zog an diesem Morgen. Nach einem kleinen Snack und einer kurzen Pause gingen wir gemeinsam weiter. An der nächsten Anhöhe entdeckten wir zum ersten Mal einen kleinen liebevoll eingerichteten Stand für die Pilger. Gegen eine kleine Spende, auf Spanisch „Donativo“, gab es hier Kaffee, Obst oder kalte Getränke.

Stärkung für die Pilger auf einer Anhöhe hinter Pamplona

Gegen 10 Uhr erreichten wir die Bergkuppe am Alto del Perdón. Durch das gute Wetter hatten wir eine fantastische Aussicht auf das weite Land um uns herum.

Nachdem wir diesen Ausblick am Morgen genossen hatten, gingen wir weiter und entdeckten an einer Ecke eine Schlange von Pilgern vor einem Tisch. Was es denn da wohl Spannendes zu sehen gab?! Neugierig näherten wir uns um dann zu entdecken, dass es hier oben einen ganz besonderen Stempel für den Pilgerausweis gab. Ein junger Mann saß dort mit einem Bunsenbrenner, einem Löffel und rotem Wachs. Einen Stempel nach dem anderen fertigte er für die wartenden Pilger an. Geduldig sahen wir seiner Arbeit zu und waren einfach froh nicht weitergegangen zu sein.  

 

Ein Wachsstempel auf den es sich zu warten lohnt

Wir bedankten uns höflich und hinterließen dem jungen Mann natürlich eine angemessene Spende.  Glücklich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht gingen wir gemeinsam weiter. Der Abstieg von der Anhöhe war sehr anspruchsvoll und rutschig. Der Weg bestand größtenteils aus groben Steinen, bei denen ich froh war, festes Schuhwerk am Fuß zu haben.

Rutschige Geröllstrecke beim Abtieg vom Alto del Perdón

Wir gönnten wir uns im nächsten Ort ein kleines Mittagessen. Es ging weiter. Entlang an ein paar schönen Kirchen, in denen es weitere Stempel zu ergattern galt. Zu Beginn meiner Reise hatte ich doch etwas Sorge, ob ich denn genügend Stempel sammeln werde, um mein Zertifikat in Santiago zu erhalten. In einigen Berichten, die ich vorher gelesen hatte, wird das Thema meiner Meinung zu heiß gekocht 🙂 da man nicht nur in den Herbergen, sondern auch in Kirchen, Cafés oder eben auch am Wegesrand einen Stempel bekam, wenn man denn will. Nun war bei mir nach drei Tagen eine regelrechte Sammelleidenschaft entstanden und ich war jedesmal neugierig, wie wohl der nächste Stempel aussehen würde. 

Gegen halb drei erreichten wir unser Tagesziel, Puenta de la Reina. Mein Kilometerzähler zeigte heute 23,7 an. Wir trafen hier auf die erste von Christen geführte Herberge der Padres Reparadores. Nachdem wir alle unser Bett bezogen hatten, ging ich in den Ort um im nächsten Supermarkt etwas Brot, Salami und Obst zu kaufen. Auf dem Weg zurück kam ich an einem Restaurant vorbei in dem ein mir vom Aussehen her bekannter Pilger saß. Ich grüßte ihn und er winkte mich zu ihm. Thomas aus Dänemark, so stellte er sich vor.

Gemeinsam tranken wir zwei Bier zusammen, tauschten uns über den Camino aus und wie wir beide den Weg bisher empfanden. Nach dem Gespräch zog es mich zurück in die Herberge um in dem wunderschönen Garten der Anlage etwas zu Essen. Nachdem ich mein beschauliches Mahl im Garten sitzend auf hatte, trudelten Janaja und der Rest der Gruppe nach und nach auch ein. Sie setzten sich zu mir. Unser Tisch füllte sich mit weiteren Pilgern und es wurde lauter und unterhaltsamer :-). Die verschiedenen Nationen redeten jetzt kreuz und quer am Tisch verteilt miteinander, natürlich meist auf englisch. Nach einiger Zeit trieb dann der Hunger alle am Tisch sitzenden in den Ort um etwas zu Essen, da es in dieser Herberge kein Restaurant gab.

Geselliger Nachmittag im Garten der Herberge in Puente de la Reina

Ich verweilte weiter im Garten, genoss das tolle Wetter und saß nun tatsächlich allein an dem großen Tisch. Die Ruhe wurde jedoch ein paar Minuten später wieder gestört. Die Störung war allerdings sehr angenehm :-). Mike aus San Diego setzte sich spontan zu mir. Er war seit einem Jahr Rentner und erzählte einfach fröhlich drauf los. Sein Akzent klang verdammt nach dem eines Cowboys der geradewegs von seiner Ranch hier her gekommen ist. Er wollte seine Schwester gestern in Pamplona treffen. Leider hatte die Kommunikation der beiden über das Smartphone nicht richtig funktioniert, sodass sie sich wohl in der Stadt verpasst hatten. Mir tat dies sehr leid als ich das hörte, er wirkte beunruhigt. Hoffentlich war ihr nichts passiert und der Camino brachte die beiden in den nächsten Tagen wieder zusammen. Auch ein paar Tage später musste ich noch an Mike denken und ob es denn mit den beiden geklappt hatte. Durch mein Wandertempo habe ich Mike leider nicht mehr wieder gesehen.

Zwei jüngere Pilger aus Irland und Frankreich gesellten sich zu Mike und mir. Ich erzählte den Beiden davon, dass ich mir Notizen mache um im Nachhinein meine Erlebnisse über den Weg erzählen zu können 🙂

Louise, Janaja, Julius und ein paar weitere Pilger kamen aus der Stadt zurück. Gemeinsam wollten sie vorne vor der Herberge noch etwas „abhängen“. An dieser Stelle muss ich mal erwähnen, dass meine Pilgergruppe einen Altersschnitt von knapp 21 Jahren hatte und sie mich als ihren Pilgervater ansahen :-). Ob das an meinen grauen Haaren lag, lasse ich jetzt mal unkommentiert… Sie gaben mir bescheid und so setzten wir uns einfach auf den noch warmen Asphalt der Straße vor der Herberge. Autos waren um diese Zeit, so kurz nach 22 Uhr, in der kleinen Gemeinde sowieso keine mehr unterwegs. Julius kramte eine Mundharmonika aus seiner Tasche und so stimmten wir gemeinsam den „Camino Blues“ an.

Es war für uns Pilger ungewöhnlich spät, aber niemand wollte so wirklich schlafen gehen. Gegen 23 Uhr war es dann aber an der Zeit und jeder verschwand nach und nach in sein Bett.

Tag 3: Zubiri – Pamplona

Da viele Pilger aus unserer Herberge bereits sehr früh in den Tag starteten, wurde ich durch das Gewusel und Geraschel automatisch wach. Mein Wecker, die vibrierende Smartwatch war also an diesem Morgen völlig überflüssig. So kam es, dass wir alle wieder gemeinsam gegen 7.30 Uhr die Unterkunft verließen. Der Himmel war leicht bewölkt. Am Ende des Horizonts konnte man langsam die Sonne aufgehen sehen, bedingt durch die Zeitverschiebung ca. eine Stunde später als in Deutschland. Bevor wir den Ort Zuriáin nach knapp 10 km erreichten, lernte ich Kelly aus Australien an einer kleinen Anhöhe kennen. Ich war erstaunt welch weiten Anreiseweg sie auf sich genommen hatte, um hier in Nordspanien wandern zu können. Schon jetzt bekam ich einen Eindruck welche Anziehungskraft dieser Weg auf die Menschen aus aller Welt hat. Sie begleitete uns ein Stück und ich konnte mich sehr gut auf Englisch mit ihr unterhalten. Nach dem kurzen Smalltalk mit ihr machte unsere Gruppe eine kurze Pause, während es Kelly weiter zog.

Frühstückspause nach knapp 10 km kurz vor Zuriáin

Der Stop kam mir wie gerufen. Schon jetzt, nach den ersten zwei Tagen spürte ich deutlich die Strapazen des Wanderns. Mich plagten zwar, wie gesagt keine Blasen an den Füßen, jedoch hatte ich bereits jetzt, nach den ersten 10 km Schmerzen unter den Füßen und in den Waden. Also befreite ich in der Pause meine Füße erstmal von den schweren Wanderschuhen. Sie hatten mir beim Auf- und Abstieg über die Pyrenäen sehr gute Dienste geleistet, waren aber eben auch kein Leichtgewicht an den Füßen. Nach gut einer halben Stunde ging es für uns weiter und ich merkte, nach den ersten Schritten wie effektiv es war, regelmäßig Pausen einzulegen. An einer Gabelung trennte sich unsere Gruppe für eine bestimmte Zeit, da es ab hier zwei Möglichkeiten gab, weiterzugehen. Der eine führte am Flussufer entlang und ein anderer, laut dem Wanderführer, an einer kleinen Kapelle vorbei. Ich entschied mich für die Kapelle und erreichte so Zabaldika. Der Rest unserer Gruppe wählte den Weg entlang des Flusses. Ich stoppte an der Iglesia de San Esteban. Beim Betreten des Gotteshauses wurde ich von einer liebenswerten älteren Dame freundlich auf Spanisch begrüßt. Nachdem ich mich in Ruhe umgesehen hatte, entdeckte ich in einer Ecke ein Schild, welches darauf hinwies, im Dachgeschoss die Glocke zu läuten. Gesagt getan. Ich begab mich über die knarzenden kleinen Holzstufen nach oben in den kleinen Turm der Kapelle. Ein erhabener Moment als ich das kleine Seil gegen die Glockenwand schlagen konnte. Ich bekam Gänsehaut. Wann hat man schon mal so eine Gelegenheit?

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Glocke zum eigenständigen Läuten in Zabaldika

Als ich wieder unten war und die Kapelle gerade verlassen wollte, drückte mir die besagte Dame einen kleinen weißen Zettel in die Hand auf dem die zehn „Seligpreisungen des Pilgers“ geschrieben standen. Wieder im Freien angekommen, nahm ich mir die Zeit und las mir diese sehr aufmerksam durch und hielt inne. Ich fühlte mich bei den Zeilen vom Geist des Camino berührt und in diesem Moment einfach völlig unbeschwert und frei. Ein wohlig warmes Gefühl durchzog meinen ganzen Körper. Ich fühlte, dass es richtig war jetzt und hier auf dem Weg zu sein. So verweilte ich noch etwas im Vorgarten der Kapelle und ließ dieses Gefühl auf mich wirken.

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Seligpreisungen des Pilgers in der Kapelle von Zabaldika

Es ging weiter Richtung Pamplona, dem heutigen Tagesziel. Die Wege trafen wieder aufeinander und so sah ich Louise und Chris nach kurzer Zeit wieder. Ich erzählte ihnen von meinem Erlebnis. Sie waren etwas neidisch das verpasst zu haben, da der Weg entlang des Flusses doch eher unspektakulär war. Hinter einer Brücke legten wir gemeinsam eine Pause ein, als kurze Zeit später auch Ivan und Julius eintrudelten. Es war jetzt 14 Uhr.

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Louise, Chris, Ivan, Stephan und Julius bei einem kurzen Stop

Es ging weiter durch ein paar kleine Städtchen und an Feldern entlang. Dann bot sich uns ein erster Blick über Schrebergärten und Bäume hinweg auf die mittelalterliche Silhouette Pamplonas. Unser Tagesziel erreichten wir gegen 15.30 Uhr und in der großen Herberge war noch ausreichend Platz für uns alle.

Schlafen auf zwei Etagen in der allgemeinen Herberge von Pamplona

Nachdem wir uns alle frisch gemacht hatten, ging es zusammen für etwas Sightseeing in die Stadt. Dabei kauften wir für das Abendessen ein und trafen Janaja, die wir an diesem Tag überhaupt nicht mehr gesehen hatten, weil sie einfach schneller unterwegs war. Wir nannten Sie mittlerweile liebevoll „Spider“, da uns ihr Laufstil mit den Gehstöckern sehr an eine Spinne erinnerte :-). Am Mittag fand in Pamplona ein typischer Stierlauf statt, den wir zum Glück verpasst hatten, als wir die Stadt gegen Nachmittag erreichten. Zurück in der großen Herberge, kochten und aßen wir zusammen und ließen den Abend in Ruhe ausklingen. Trotz der „nur“ knapp 22 km waren alle auch an diesem Tag einfach platt und wieder zeitig reif fürs Bett. Man merkte, dass uns die Pyrenäen nachhaltig in den Knochen steckten. Wir waren gespannt wie wir uns am nächsten Tag wohl fühlen werden.

Tag 2: Urriba – Zubiri

Durch die nötige Bettschwere schliefen wir alle wie Steine. Die erste Etappe hatte es wahrlich in sich. In der Nacht hatte es geregnet und in den Morgenstunden war der Himmel ziemlich wolkenverhangen. Zwischen den Tannen hang der Nebel und es nieselte leicht vor sich hin. Um 07:30 Uhr verließen Louise, Janaja, Chris und ich gemeinsam den Campingplatz. Zum Wandern war das Wetter durch die hohe Luftfeuchtigkeit ideal. Lediglich unsere Rucksäcke statteten wir mit dem entsprechenden Regenschutz aus. Nach den ersten km durch Wälder und Felder beschlossen wir uns einen Café con leche zu gönnen und eine Kleinigkeit zu essen. Ich gönnte mir an diesem Morgen ein Baguette. Bei diesem kurzen Stopp trudelten auch Julius aus Berlin und Ivan aus Kroatien ein, die wir bereits am ersten Tag kennengelernt hatten, ich zu diesem Zeitpunkt nur vergessen hatte zu erwähnen. Unsere Gruppe wurde also größer.

Es ging weiter, oft auch an einigen Straßenabschnitten entlang. Dem Auge wurde an diesem Tag nicht sehr viel Abwechslung geboten und so erreichten wir, nach einem weiteren kleinen Stopp Zubiri. Unsere zurückgelegte Strecke betrug an dem Tag „nur“ 18,5 km. Es war erst kurz nach 13 Uhr. Nach der gestrigen anstrengenden Bergetappe und der Ungewissheit für heute wieder kein Bett im Zielort zu bekommen, sollte es für Tag 2 einfach gut sein. Uns fehlte hier einfach noch Erfahrung und Routine um Einschätzen zu können wann wir am Besten unser Tagesziel erreichen. Hinzu kam, dass ich mich in unserer kleinen Gruppe sehr wohl fühlte und diese nicht schon wieder verlassen wollte. Da alle anderen, bis auf Janaja, beschlossen in Zubiri zu bleiben. Uns zog es gemeinsam in die Albergue Municipal, der allgemeinen Herberge im Ort. Nach dem „Einchecken“ war es Zeit, das Bett zu beziehen. In jeder Herberge erhielten die Pilger einen Einmalbezug für Bett und Kissen für ihre Übernachtung. Nach einer erfrischenden Dusche freuten sich vor allem die geschundenen Füße über eine ordentliche Portion Hirschtalgcreme :-). Meiner Meinung nach unabdingbar auf dem Camino.

Albergue Municipal in Zubiri

Nachdem alle mit ihren persönlichen Erledigungen fertig waren, konnten wir zusammen los um uns für das Abendessen einzudecken. Im Ort fanden wir einen kleinen, beschaulichen Supermarkt, in dem wir uns mit Nudeln, Sauce Bolognese und Salami versorgten. Da es früher Nachmittag war, ging es nach dem Einkauf nicht direkt zurück zur Herberge, sondern an den schönen Fluss, den wir bei der Ankunft in Zubiri entdeckt hatten.

Jeder deckte sich beim Einkauf noch mit der ein oder anderen Dose Bier ein, sodass wir den Nachmittag, als wir am Fluss ankamen, gemütlich ausklingen lassen konnten. Vor Ort trafen wir einen weiteren Pilger, Michel aus Polen. Er war ebenfalls von SJPDP gestartet und so hatten wir die Möglichkeit uns über die bisherigen Erfahrungen des Weges auszutauschen. Wir waren uns einig darüber, dass uns die Pyrenäen mehr abverlangt hatten als wir beide es dachten. Nicht nur der Aufstieg, auch der steile Abstieg hatte es in sich. Michel war bis jetzt allein unterwegs und plante den Camino auch allein weiterzugehen. Da es in der Sonne noch richtig warm war, kühlten wir unsere Füße im kalten Wasser des Flusses ab.

Mit den Füßen im Wasser nach einem kurzen Wandertag in Zubiri

Da so eine Truppe nicht lange unbemerkt blieb, gesellten sich etwas später noch zwei Frauen aus Schweden dazu, die am Fluss entlang gingen. Gemeinsam wurde es ein sehr unterhaltsamer Nachmittag. Als die Dämmerung einsetzte, wurde es jedoch Zeit zur Herberge zurück zu kehren. Wir hatten alle Hunger. Julius, der privat gerne kocht, schnappte sich beim Eintreffen an der Herberge direkt die Zutaten für unser Abendessen. Der Rest der Gruppe verbrachte zusammen mit den anderen Pilgern, die hier eingekehrt waren die Zeit im Innenhof und verzehrten so noch das ein oder andere Getränk. Was jedoch nur möglich war, da Ivan unseren Vorrat wieder aufgefüllt hatte, nachdem er fast unbemerkt zwischenzeitlich beim Supermarkt war.

Der Koch hatte ganze Arbeit geleistet. Gemeinsam saßen wir draußen an einem langen Holztisch und gönnten uns die Nudeln. Wir hatten alle einfach tierischen Hunger. Plötzlich und wie aus dem Nichts brach ein Gewitterschauer über uns herein. Zack und vorbei war es mit der Gemütlichkeit. Jeder rettete sein Essen und seine Sachen unter das Vordach der Herberge. Eine gute Stunde später beruhigte sich das Wetter und auch die Sonne zeigte sich wieder. Nun blieb noch genug Zeit um die eigenen Sachen wieder trocken zu bekommen, um am nächsten Morgen bestens vorbereitet starten zu können. Niemand will mit nassen Klamotten loslaufen müssen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Die Socken würden in den Schuhen nur zwangsläufig zu Blasen führen. Derartige Schmerzen beim Laufen wären einfach unerträglich. Der Wandertag würde zur Tortur. Ohne Blasenpflaster ginge dann so gut wie nichts mehr. Vielleicht auch ein Grund warum es auf dem Weg in regelmäßigen Abständen Versorgungsautomaten gibt, die nicht nur Getränke und Snacks bereithielten, sondern eben auch Pflaster oder ähnliches.

Versorgungsautomat am Wegesrand

In unserer Herberge waren zum Glück Waschmaschine und Trockner vorhanden, was nicht in jeder Unterkunft der Fall ist. Oftmals musste man sich auch mit einer einfachen Handwäsche zufrieden geben. Ehrlich gesagt, reichte das an den meisten Tagen auch völlig aus. Wir legten unsere Klamotten zusammen und warfen die erste Maschine an. Neben Waschen und Trocknen klang der Abend so bei dem ein oder anderen Getränk und guten Gesprächen im Innenhof der Herberge aus, bevor jeder nach und nach in sein Bett verschwand.

Tag 1: Saint Jean Pied de Port – Roncesvalles

Die erste Nacht im Hostel, so als wäre es das Normalste von der Welt mit fremden Menschen in einem Raum zu schlafen und eben nicht in seinen eigenen vier Wänden und im eigenen Bett. So zumindest erging es mir. Es war Montagmorgen. Nach dem Zähneputzen erwartete mich in der Küche ein kleines typisches französisches Frühstück mit Croissant und Kaffee. Da ich außer Bonjour die Landessprache nicht beherrschte, entstand ein Smalltalk auf Englisch mit den Pilgern die es verstanden. Jedoch waren nur wenige um diese Zeit noch hier, da es „schon“ kurz vor acht war. Ich wollte doch noch zum Postamt, welches erst um 9 Uhr öffnete. Da ich mit Handgepäck im Flugzeug angereist war, konnte ich das Taschenmesser, das mir durch die Packliste dringend empfohlen wurde, dort nicht unterbringen.

So hatte ich knapp drei Wochen vor meiner Reise ein kleines Paket zum Hostel geschickt indem sich neben dem Taschenmesser noch Sonnen- und Insektenschutz, sowie ein Desinfektionsmittel für die ersten Tage befand. Ich wollte doch vorbereitet sein auf dieses Abenteuer. Das besagte Paket kam jedoch nie im Hostel an und landete laut Sendungsverfolgung im Postamt von SJPDP. Vorher machte ich mich noch auf ins Pilgerbüro um meinen ersten Stempel für die „Credencial“, den sogenannten Pilgerausweis zu erhalten. Wie wichtig dieser Ausweis ist, stellt sich spätestens am Ende einer Pilgerreise heraus, nämlich dann, wenn man Santiago erreicht. Sheryl, eine nette ältere Dame, die an diesem Morgen im Büro arbeitete, wies mich ausführlich und in feinstem britischem Englisch sorgfältig auf die Gefahren der ersten Etappe über die Pyrenäen hin. Ich versuchte ihr aufmerksam zu zuhören, musste aber die ganze Zeit daran denken, dass ich doch endlich loswollte. Sie drückte mir noch ein paar Zettel mit diversen Informationen zum Weg und zu den Herbergen in die Hand. Bevor es jedoch wirklich die Berge hinauf ging wartete ja noch mein Paket im Postamt auf mich.

Noch ein schneller Kaffee in einem Café, bevor die Uhr dann endlich neun schlug. Das Postamt öffnete. Auf Englisch versuchte ich der guten Dame am Schalter zu erklären, dass hier eine Sendung für mich hinterlegt war. Da sie mich nicht wirklich verstand oder verstehen wollte, rief ich einen Arbeitskollegen in Deutschland an, der des Französischen mächtig war. Als er das Gespräch annahm, übergab ich der Frau mein Telefon. Ich verfolgte die angeregte Unterhaltung und erwartete bald ein Lächeln und ein Nicken bei der guten Dame. Meine Erwartung wurde leider enttäuscht, da am Ende herauskam, dass mein Paket nicht im Postamt war und diese Sendungsnummer auch von einer ganz anderen Gesellschaft stammte, die die Postfiliale überhaupt nicht beliefert. In meinem Blick erkannte man jetzt Ratlosigkeit.

Paket mir Utensilien für die ersten Tage welches nie in SJPDP ankam
Paket mit Utensilien welches nie in SJPDP ankam

Okay dachte ich, es nützt nichts sich jetzt darüber aufzuregen, dass ich ne gute Stunde mit Warten verplempert hatte. Jetzt sollte es doch endlich losgehen. Gesagt getan. Ich folgte dem auf einem meiner Zettel beschriebenen Weg raus aus der Stadt.

Schon bald wurde die Straße immer etwas steiler und ich ahnte so langsam was da am ersten Tag auf mich zukommen sollte. Voller Energie und Tatendrang bewältigte ich die ersten wenigen Kilometer, mit großer Wissbegierde diesen Weg zu erkunden. Ich überholte die ersten Pilger an diesem Morgen. Eine Reisegruppe bestehend aus vier Frauen zwischen 50 und Mitte 60 aus Heidelberg. Es entstand ein kurzer Smalltalk und so erfuhr ich, dass die Etappe für die Damen heute in Orisson enden wird. Dort gab es eine kleine Herberge am Wegesrand, welche ca. 8 km von SJPDP entfernt war. Ich ging weiter. Mein Ziel sollte heute nach knapp 25km der Ort Roncesvalles sein. Aus der geteerten Straße wurde nun teilweise eine platt getretene Wiese bzw. eine Geröllstrecke mit unbefestigtem Untergrund. Der Weg gewann weiter enorm an Steigung. Mir wurde verdammt heiß und ich kam mächtig ins Schwitzen. Meine Smartwatch riet mir dringend eine Pause einzulegen, da meine Werte nun dauerhaft weit über der Norm waren.

Nach knapp 2 ½ Stunden erreichte ich Orisson, den Ort, in dem die Damen aus Heidelberg heute stoppen würden. Ich befand mich nun bereits auf 800m Höhe, bei bestem Wanderwetter mit 20 Grad Außentemperatur und strahlend blauem Himmel. Richtig genießen konnte ich dies jedoch nicht, da ich völlig außer Atem war und ein paar Minuten brauchte bis mein Puls wieder einigermaßen Normalform hatte. Die ersten km waren so anstrengend, dass mein Shirt jetzt völlig durchgeschwitzt war und ich in Orisson die Gelegenheit nutzte, es bei einer Pause zu wechseln.

Mit neuer Energie ging es weiter den Berg hinauf. Als ich ein paar Meter von der Herberge entfernt war, wurde mein „Hallo“ beim nächsten Überholvorgang nicht wie gewohnt mit einem „Good Morning“ oder Bonjour erwidert. Nein, diesmal erhielt ich ein „Wie hallo?“ Etwas verdutzt von der Antwort stellten wir uns gegenseitig vor. Louise, so hieß eine der jungen Damen, die einen lustigen weißen Hut und eine bunte Brille trug. Sie stellte mir Janaja, eine Kanadierin, die genauer gesagt aus Calgary kam, vor. Beide hatten sich erst vor zwei Tagen auf dem Weg vom Bahnhof Bayonne nach SJPDP kennengelernt und spontan entschieden, gemeinsam auf den Camino zu starten. Für die beiden war es auch der erste Camino in ihrem Leben. Zwischen uns entwickelte sich ein lockeres Gespräch, wobei wir ab jetzt ständig englisch sprechen mussten, damit Janaja uns verstehen konnte. Wir gingen die nächsten km gemeinsam und trafen auf einen Italiener der mit einer kleinen Transportkarre reiste, um seinen schweren Rucksack nicht tragen zu müssen. Wir stoppten und er stimmte ein spontanes „O Sole Mio“ an. Louise begleitete ihn mit besten Absichten, auch wenn sie kein Wort auf Italienisch singen konnte.

O Sole Mio auf dem Weg nach Roncesvalles

Nach dem kurzen Duett gingen wir drei weiter. Der Weg verlangte uns nun wirklich alles ab. Die Steigung nahm sichtbar einfach kein Ende. Dafür variierte der Härtegrad ständig. So hatte ich mir das wirklich nicht vorgestellt an Tag 1, auch wenn ich mir den Wanderführer aufmerksam durchgelesen hatte. Ohne es direkt zu merken überschritten wir bei diesem Anstieg die spanische Grenze und verließen bereits am ersten Tag Frankreich. Ziemlich geschafft von der Tortur, erreichten wir bei immer noch bei bestem Wetter, den höchsten Punkt auf dieser Etappe, Col de Lepoeder auf 1.437m.

Col de Lepoeder auf 1.437m Höhe

Ein paar Meter auf dem Weg weiter gesellte sich Chris aus Koblenz zu uns. Da ihm nicht entgangen war, dass sich unsere kleine Gruppe auf Deutsch und Englisch unterhielt, kamen wir schnell ins Gespräch. Er begleitete uns bis zu unserem Tagesziel. In Roncesvalles folgte der Erleichterung angekommen zu sein, prompt der Ernüchterung, dass wirklich jedes der 218 Betten in der einzigen Herberge, dem Kloster für diesen Tag bereits vergeben waren. Wir waren einfach zu spät dran, es war nun bereits 17 Uhr. Unseren Stempel erhielten wir trotzdem, auch wenn wir hier nicht übernachten konnten.

Kloster Roncesvalles

Nach kurzer Diskussion mit den Herbergsvätern, teilte man uns mit, dass Taxen organisiert wurden, die uns zur nächstmöglichen Unterkunft bringen. Ein paar km weiter lag der Campingplatz Urrobi. Dieser nahm Pilger auf, die aus Platzgründen nicht in Roncevalles bleiben konnten. Wir erhielten unsere Zimmer mit mehreren Doppelstockbetten. Daran musste man sich ab jetzt gewöhnen. Erstmal raus aus den durchgeschwitzten Klamotten und ab unter die Dusche dachte ich. Unsere Anziehsachen mussten wir per Hand waschen. Diese landeten zum Trocknen auf einer Wäscheleine im Gebäude. Zum Abendessen, in dem kleinen Restaurant auf dem Campingplatz gab es Makkaroni mit Lachs. Wobei das fast Nebensache war, wir hatten einfach nur Hunger! Keiner der Pilger hatte nach dem ersten Tag und diesem langen Marsch noch Lust sich selbst zu versorgen, zumal wir in der Nähe auch keinen Supermarkt entdecken konnten.   So gab es erstmals ein sogenanntes „Pilgermenü“. Eine Vorspeise, ein Hauptgericht und Nachtisch, sowie Wein oder Wasser dazu. Wir ließen uns den Rotwein schmecken und mussten alles andere als auf dem Trockenen sitzen, da hiervon reichlich vorhanden war. Der Abend endete in geselliger Runde, bevor jeder hundemüde sein Bett aufsuchte.

Plötzlich Pilger

Bereits im Jahre 2014, kurz nach dem Tod meiner Mama ist mir der Gedanke in den Kopf geschossen einmal den Jakobsweg gehen zu wollen. Woher dieser Gedanke kam und warum es gerade „der“ Jakobsweg sein musste kann ich heute nicht mehr genau sagen. Inspiriert haben mich auf jeden Fall das Buch von Hape Kerkeling, sowie die Erzählungen eines guten Arbeitskollegen.
Der Gedanke, einmal allem entfliehen zu können, um sich nur um sich selbst kümmern müssen, ohne die Pflichten des Alltags war ein Gedanke der mich u.a. sehr gereizt hat. Anderen Menschen zu begegnen, die diesen Weg ebenfalls gehen, zu erfahren was sie dazu bewegt hat, aus welchen Gründen sie diesen Weg gehen, was sie sich erhoffen. Mehr über mich zu erfahren und wie es mir dabei geht, wenn ich auf diesem Weg bin. Was ich denke, was ich fühle, was mich umhertreibt.


Am 03.09.2018 begann Sie nun, meine Reise auf dem Jakobsweg. Erst zwei Monate vorher traf ich die finale Entscheidung mich tatsächlich auf dieses Abenteuer zu begeben. Der ausschlaggebende Moment war ein Gespräch welches ich Anfang Juli führte. Ohne dies hätte ich ein paar Tage später womöglich doch wieder Gründe gefunden es nicht zu tun. Mein Vater war Ende April ganz überraschend an einem Herzinfarkt verstorben und so fühlte ich mich nun noch mehr für meinen psychisch kranken Bruder verantwortlich als vorher, was er mich auch unmittelbar spüren ließ. Direkt am Tag nach dem besagten Gespräch teilte ich meine Entscheidung meinem Arbeitgeber mit. An dieser Stelle muss ich ihm ein großes Kompliment dafür machen, dass er mich relativ kurzfristig für sechs Wochen in den Urlaub entlassen hatte. Ich erzählte meinen Freunden von meinem Vorhaben. Bei fast allen spürte ich Begeisterung beim Erzählen, einige waren wirklich neidisch, aber alle sprachen mir positiv zu und bewunderten den Mut für so ein Vorhaben.

Nachdem die Hürde mit meinem Arbeitgeber genommen war, stellten sich mir sofort eine Reihe von Fragen. Wie komme ich am besten nach Südfrankreich? Was brauche ich und muss ich wirklich mitnehmen angesichts des Gewichts? Wie bereitete ich mich am besten auf diesen langen Weg vor? Nachdem die Art der Anreise schnell geklärt war, durchsuchte ich das Internet nach der sinnvollsten Packliste für die Reise und musste dabei feststellen, dass es diese nicht gibt. Zu unterschiedlich waren die Anforderungen die jeder Pilger an sich und so einen Trip hat oder von dem er glaubte er müsse es unbedingt dabeihaben. So suchte ich mir das für mich passende aus allem raus, auch im Hinblick darauf, dass mein Rucksack ins Handgepäck des Fliegers passen musste. So hatte ich mir selbst schon ein Hostel für die erste Nacht in Südfrankreich via Internet gesucht und gebucht. Nun konnte ich mich voll und ganz auf das Einkaufen diverser Utensilien konzentrieren. Vieles von dem was ich mitnahm kaufte ich zum allerersten Mal, wie z. B. Bergwanderschuhe, Funktionskleidung, oder einen Wanderrucksack. Die Ausrüstung wählte ich sorgfältig aus, da sie mich im besten Fall vom Anfang bis zum Ende des Weges begleiten würde. Viele weitere praktische Helferlein kamen natürlich noch hinzu, die an dieser Stelle jedoch nicht einzeln erwähnt werden müssen.

Nachdem ich nun glaubte alle benötigten Dinge bei mir zu haben und mich gut auf die bevorstehenden Strapazen, die mich täglich erwarten würden vorbereitet zu haben, ging es dann am ersten Sonntag im September wirklich los. Ein guter Bekannter brachte mich am Morgen zum Flughafen von wo es dann über London nach Biarritz ging. Beim ersten Boarding in Weeze konnte ich auf den ersten Blick keine weiteren Pilger entdecken, die womöglich das gleiche Reiseziel haben. Ob sich dies in London ändern wird!? In England angekommen wirkten die zwei Stunden Umsteigezeit auf dem Papier recht üppig. Dies relativierte sich jedoch durch das Ein- und Ausreiseprozedere mehr als deutlich, sodass es am Ende sehr knapp wurde, dass ich meinen Anschlussflug erreichen konnte.
Beide Flüge verliefen sehr ruhig und ich landete planmäßig gegen späten Nachmittag in Biarritz. Hier entdeckte ich zum ersten Mal andere Pilger, die man an ihren Rucksäcken erkennen konnte und die ebenfalls in Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port (nachfolgend SJPDP abgekürzt) unterwegs waren. So heißt einer der möglichen Startorte für den sogenannten „Camino Francés“. Der richtige Bus zum Bahnhof nach Bayonne wurde schnell gefunden. Dort angekommen erwartete uns Pilger die erste Überraschung. Der Zug nach SJPDP fiel an diesem Tag aus. So mussten wir kurzerhand in einen Ersatzbus umsteigen, der auch direkt in Sichtweite am Bahnhof abfahrtbereit stand.


Ein handgeschriebener Zettel an der Windschutzscheibe verriet uns das Fahrtziel. Als ich den Bus betrat war gerade noch ein Sitzplatz verfügbar, sodass es auch direkt losging. Neben mir saß eine junge Französin. Wir kamen nach kurzer Zeit ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass sie sehr gut deutsch sprechen konnte, da sie ein Jahr als Au-Pair in Karlsruhe verbracht hatte. Die Zeit bis SJPDP verging durch das anregende Gespräch wie im Fluge. Dem Fahrstil des französischen Busfahrers ist es zu verdanken, dass der Bus gegenüber dem Zug unwesentlich länger benötigte um das Fahrtziel zu erreichen. In SJPDP angekommen machte ich mich direkt auf den Weg zu meinem Hostel. Das Zimmer teilte ich mir in dieser Nacht mit einer Brasilianerin und einer Ungarin, die ebenfalls zum Pilgern hier waren. Wir machten uns kurz bekannt. Jeder richtete sich direkt für die bevorstehende Nacht an seinem Bett ein. Schon ein komisches Gefühl, wenn man sich zum ersten Mal den Raum mit fremden Leuten teilen muss. Ich machte mich kurz frisch und ging in den Ort. Nach dem langen Tag sehnte ich mich nach einem Essen und einem kühlen Bier. Das Café de la Paix konnte mir geben was ich brauchte, auch wenn es das nicht zum Pilgerpreis gab. Was das bedeutet, erfahrt ihr etwas später…
Der ganze Ort, so klein er auch ist, war um diese Zeit doch ziemlich belebt. Nach dem Essen und der Erfrischung zog es mich dann aber auch recht schnell zurück ins Hostel. Ein sehr langer Tag neigte sich dem Ende entgegen, ich wollte am nächsten Morgen ausgeschlafen starten. Es war mein erster richtiger Wandertag, die erste Etappe auf dem langen Jakobsweg, ich war gespannt was mich erwartet… Gute Nacht!