Tag 16: Calzadilla de la Cueza – Sahagún

Hier geht´s lang…

Kaum hatte ich die Herberge an diesem Morgen verlassen, wurde mir auch schon die Richtung mit unzähligen Steinen vorgegeben:-). Meine Nacht war leider nicht so erholsam, da es im Schlafsaal sehr stickig war und ich gegen zwei Uhr wach wurde und es auch erstmal blieb. Ich daddelte eine ganze Zeit lang auf meinem Handy rum bis ich wieder müde und mich umdrehte. Trotzdem wurde ich gegen kurz nach sechs wach, fühlte mich nicht sonderlich ausgeschlafen, zog aber dennoch los. Mit dem Handylicht war es mir möglich den Weg einigermaßen gut zu erkennen. Daran hatte ich bei meiner Vorbereitung auf den Camino nur bedingt gedacht. Mir kam eine Hand- oder Stirnlampe aber auch zu viel vor und ich wollte Gewicht sparen:-). Trotz der Dunkelheit kam ich sehr gut voran. Es wurde langsam hell und nach ca. zwei Stunden war es Zeit für den ersten Stop und einen Kaffee.

Auf dem Weg nach Terradillos de los Templarios

Kurz vor der Pause drehte ich mich nochmal um und konnte so hinter mir den wunderschönen Sonnenaufgang genießen. Als ich mich wieder auf den Weg machte, bemerkte ich, dass zwei Pilger hinter mir waren, die selbst auf der Straße ihre Gehstöcke benutzten. Leider jedoch ohne den nötigen Gummipfropfen, sodass man das tak tak auf dem Asphalt auch aus weiterer Entfernung noch deutlich vernehmen konnte. Wie nervig, dachte ich und erhöhte mein Tempo um den beiden zu enteilen. Ein Geräusch welches mir auf dem Weg noch öfter begegnen sollte. Ca. zwei Stunden später erreichte ich Terradillos de los Templarios. Ein Ort in dem es eine Herberge gab, die zu Ehren des letzten Großmeisters des Ordens Jaques de Molag errichtet wurde, der 1314 verstarb.

Ich ging weiter und erreichte Moratinos. Auffällig in dem Dorf waren zweifelsohne die Vorratsspeicher, die vor langer Zeit hier errichtet wurden, da diese Aussahen als würden dort die Hobbits leben. Hinweisschilder machten deutlich darauf aufmerksam, dass dies nicht der Fall ist:-)

Hier wohnen nicht die Hobbits

Noch kurz bevor ich in Moratinos ankam, überholten mich seit langem wieder andere Pilger. Es waren zwei Deutsche, Jörg aus Düsseldorf und Katrin aus Augsburg. Wir machten uns bekannt und wie es der Teufel so wollte, kannte Jörg auch Gerd bereits. Jörg war Tage zuvor mit zwei anderen Pilgern die wahnsinnige Strecke von 50 km gelaufen. Er berichtete uns von dem Tag und ich konnte es kaum glauben. Katrin und Jörg stoppten in Moratinos. Mich zog es noch etwas weiter bis nach San Nicolas del Real Camino, wo ich mir ein sehr leckeres Frühstück gönnte.

Café con Leche, Zumo de Naranja y Bocadillo de Chorizo zum Frühstück

Als ich da so in einem Café nahe der Kirche saß, dachte ich darüber nach welch tolle Pilger ich bis jetzt kennen lernen durfte und welche Gründe sie bewegten auf den Jakobsweg zu gehen. Gerade die Jüngeren unter ihnen wollten nach ihrem Abschluss an Uni oder Hochschule herausfinden, was sie im Leben einmal machen wollten und nutzten dafür jetzt ihre freie Zeit. Andere wiederum hatten Phasen in ihrem in denen sie merkten, dass sie eine Auszeit benötigten um Abstand von gewissen Dingen zu bekommen oder über ihre jetzige Situation nachdenken zu können. Bisher wirkte jeder mit dem ich sprach sehr selbst reflektiert, hinterfragte sich und sein Leben an diesem Punkt.

Ich setzte meine Wanderung fort und kam zur Ermita de la Virgen del Puente wo ich nochmal eine kurze Pause einlegte. Dreißig Minuten später erreichte ich Sahagún, mein heutiges Tagesziel. Meine ausgewählte Herberge wirkte von innen sehr urig und rustikal. Ich war einer der ersten Pilger hier am heutigen Tag.

„Alleinbezug“ in Sahagún ohne weitere Pilger in dem Abteil

Die Stadt lud zu einem kleinen Bummel ein, es war erst halb eins. Die Etappe erstreckte sich heute über 22,4 km. Ich freute mich, so früh schon mein Ziel erreicht zu haben und hatte noch den ganzen Nachmittag zur Verfügung. Ein tolles Gefühl. Beim Schlendern durch die Gassen entdeckte ich den zentralen Platz der kleinen Stadt und fand draußen einen schönen Sitzplatz in einem Restaurant an der Ecke. Ich bestellte mir ein Bier und erhielt eine köstliche kleine Tapa dazu. Da es jetzt kurz nach Mittag war, waren alle Geschäfte geschlossen und ich verfolgte das Treiben auf dem kleinen Platz. Spielende Kinder mit ihren Eltern säumten den Platz, die etwas Größeren fuhren Rad oder Skateboard.

Bier und Tapas. Eine leckere kleine Kombination

Am späten Nachmittag öffnete der Supermarkt wieder, sodass ich mich mit Getränken für den Folgetag eindecken konnte. Noch zu Anfang meines Weges hatte ich immer das Brunnenwasser getrunken. Da dieses jedoch nicht dem Qualitätsstandard in Deutschland entsprach und ich mit jedem Tag auch mehr Respekt vor einer möglichen Magenverstimmung bekam, entschloss ich mich zu einer Kombination aus Sports Aquarius und Mineralwasser. Damit startete ich an jedem neuen Morgen. Nachdem der Einkauf erledigt war, ging ich nochmal zurück zum Platz, es war jetzt gegen 18 Uhr. Die Kinder spielten noch und in einer Ecke konnte ich beobachten wie ein junger Mann sich um seine im Rollstuhl sitzende Mutter (nehme ich an) liebevoll kümmerte.

Es waren rührende Gesten und Berührungen. In diesem Moment musste ich an Papa denken und war dankbar dafür, was uns evtl. erspart geblieben war. Jemanden zu pflegen ist nun mal eine große Herausforderung und dauerhafte Belastung. Die Situation bedrückte mich. Ich zahlte meine Rechnung und verließ den Platz in Richtung meiner Herberge. Auf der Terrasse der Herberge telefonierte ich an diesem Abend noch mit einem guten Freund in Deutschland und trank dazu ein Glas Wein. Nachdem die Sonne untergegangen war, zog es mich auf mein „Einzelzimmer“.

Tag 15: Fromista – Calzadilla de la Cueza

Beim Betrachten der heutigen Etappe im Wanderführer sah ich, dass zwei Optionen zur Wahl standen. Der lange Weg erstreckte sich über stolze 37 km. Die einfache Variante hatte dagegen noch nicht einmal 20 km. Wofür ich mich entschieden hatte dürfte jedem klar sein… Da es immer noch durch die Meseta gehen würde, versprachen beide Etappen nicht sonderlich abwechslungsreich und eine enorme mentale Herausforderung zu werden. Jedoch sollte laut Wanderführer die Längere, auch die schönere Variante zu werden… Naja, ich konnte gespannt sein:-). Bereits um kurz nach sechs Uhr verließ ich die Herberge. Wieder einmal ging es im Dunkeln und nur mit Handylicht auf die ersten Kilometer des Weges.

Die ersten Kilometer im Dunkeln hinter Fromista

Die Temperatur war zum Laufen herrlich angenehm. Links und rechts des Weges hörte ich immer etwas Rascheln in den Büschen, sobald ich mich diesen näherte… Der Weg verlief schnurgerade nach Villovieco. Als ich den kleinen beschaulichen Ort, der um 7 Uhr morgens noch sehr verschlafen war, wieder verließ, ging es an einem Bach und einer Straße weiter ziemlich geradeaus bis zur Ermita de la Virgen. Gegen kurz nach acht erstrahlte die Sonne so langsam am Horizont und erhellte den jungen Tag. Meinen ersten Kaffee trank ich heute in Villacázar de Sirga. Ich nutzte die Gelegenheit um mal kurz aus den Schuhen zu schlüpfen… Hatte ich schon erwähnt, dass der Weg immer noch sehr eintönig war?? Es ging weiter auf ein schier endloses Stück entlang der Straße, bis ich gegen 11 Uhr Carrión de los Condes erreichte.

immer an der Straße entlang

Noch heute kann ich mich gut an diesen Moment erinnern. Es war wieder ein sehr heißer Tag geworden. Meine Uhr zeigte mir an, dass ich bereits 20 km hinter mir gelassen hatte. Und doch wollte ich meine Etappe nicht so früh enden lassen. Ich entschied mich für eine Pause in einem kleinen Park nahe der Straße. Es hieß Füße hoch legen und das Treiben um mich herum beobachten. Eine knappe halbe Stunde später packte es mich und ich traute mir zu die noch vor mir liegende anstrengende Etappe anzugehen. Es ging weiter durch die Meseta, auf unendlich langen Wegen und entlang an kargen Getreidefeldern.

aus der Straße wurden Schotterwege und trotzdem weiter schnur geradeaus

Meine mentale Stärke wurde heute wieder sehr gefordert, sodass ich beschloss mir die Kopfhörer ins Ohr zu stecken um einige meiner Lieblingssongs zu hören. Die monotone, baumlose Landschaft und der immer noch schnurgerade Weg machten mir sehr zu schaffen. Die Zeit verging so etwas schneller, aber das Bild änderte sich einfach nicht. Zum tristen Weg kam die Mittagshitze hinzu. Ich schwitzte unter meinem Sonnenhut und das zog regelmäßig Fliegen an, die in und um mein Gesicht herum schwirrten…

Nach fast zwei Stunden erschien dann doch noch eine kleine Oase am Wegesrand, die nur in den Sommermonaten geöffnet hatte. Dieser Stop kam mir jetzt mehr als gelegen. Ich bog direkt rechts ab und konnte meine Energie mit etwas Obst und einem frisch gepressten Orangensaft wieder auftanken. 

eine kleine Oase im Nirgendwo entlang des Weges

Weiter ging es in der Einöde. Die Kulisse um mich herum änderte sich weiterhin nicht, einfach der Wahnsinn. Diese endlosen Weiten ohne ein Ziel am Horizont erblicken zu können. So, genug gejammert…

Endlich erreichte ich mein Tagesziel, Calzadilla de la Cueza. 37 km hatte ich heute hinter mir gelassen. Auf dem letzten Stück so gut wie keinen Pilger mehr überholt oder gesehen. Die letzten 17 km waren in der Mittagshitze zugegeben die pure Qual.

Calzadilla de la Cueza war endlich erreicht

Ich ging schnurstracks auf eine der zwei Herbergen im Ort zu. Mehr hatte der 50 Seelen Ort auch nicht… Ihr könnt euch nicht vorstellen wie geil der Anblick war, als der Kellner in der Bar der Herberge um seine Theke ging und in die Kühltruhe griff um von dort einen eiskalten Maßkrug heraus zu holen, welchen er dann unter den Zapfhahn hielt. Ein Leuchten war in meinen Augen zu erkennen… Nach dem ersten Schluck waren die Schmerzen und die Anstrengungen des Tages mit einem Mal vergessen… Der kleine Ort war ziemlich Trist, sodass ich mich einfach den Nachmittag über entspannte und erholte. Etwas später lernte ich im Supermarkt dann doch noch zwei Pilgerinnen kennen. Mit Monika und Andrea aus Rumänien wechselte ich ein paar Worte auf englisch. Ich ging zurück in den Außenbereich der Bar und genoss den Sonnenuntergang bevor es mich ins Bett zog.

Tag 14: Hontanas – Fromista

Bereits um zwanzig vor sechs wurde ich wach an diesem Morgen… und das ganze ohne meinen vibrierenden Wecker am Handgelenk:-). Ich war unserem kleinen Schlafsaal der Erste an diesem Morgen. Mein Körper hatte sich in der Nacht nach dem gestrigen Marsch tatsächlich perfekt erholt. Nochmal umdrehen machte aus meiner Sicht keinen Sinn, da ich mich ziemlich ausgeschlafen fühlte. Aufstehen und fertig machen war die Devise. Eine knappe halbe Stunde später ließ ich Hontanas hinter mir. Auf der Straße konnte ich beim Verlassen der Herberge noch niemanden entdecken. Es war aber auch noch stockdunkel. Da es jedoch nur diese eine Straße gab, die aus dem Dorf heraus führte, stellten sich mir an diesem Morgen keine Fragen wo es denn lang gehen würde.

Es war noch ein gutes Stück bis Santiago…

Um trotzdem nicht vom Weg ab zukommen, oder gar falsch abzubiegen, leuchtete ich mit dem Handylicht vor mir her, sobald es nach dem Dorf über die ersten Feldwege ging. Nach gut 1 ¼ Stunden erreichte ich das Kloster von San Anton, besser gesagt die Ruine von dem was noch übrig war. An der Landstraße entlang ging es weiter bis ins Zentrum von Castrojeriz. Nach ca. einer halben Stunde hieß es dann wieder einmal bergauf zu laufen, Richtung Tafelberg, zum Alto de Mostelares.

Auf dem Weg zur Hochebene

Der Anstieg hatte es richtig in sich, es galt 12% Steigung zu überwinden. Am Horizont sah ich die Sonne aufgehen und das Gebirge erstrahlte rundherum immer mehr im Licht. Als ich den höchsten Punkt dann endlich erreichte, gönnte ich mir meine erste Pause. Die Aussicht von hier oben war sensationell weit. Das Auge bekam im September zu allen Seiten abgeerntetes Weideland zu sehen. Der Boden war pulvertrocken. Hier hatte es tage- oder wochenlang nicht mehr geregnet.

Abstieg nach Palencia

Kurze Zeit später ging es wieder bergab und auch dies war mehr als anspruchsvoll. Ganze 18% Gefälle waren zu meistern. Unten angekommen betrat ich die Provinz Palencia. Trotz der schönen Aussicht konnte ich diese tagelange Einöde nicht mehr genießen, sodass ich mir zur Ablenkung meine Kopfhörer ins Ohr stopfte. Während ich so dahin wanderte und mich über mein Smartphone mit etwas Musik beschallen ließ, hängte sich die Software plötzlich auf. Nichts ging mehr, das Display reagierte einfach nicht auf meinen Fingerdruck.

Also startete ich es neu. Zu Hause in Deutschland hatte ich kurz vor meiner Abreise noch meine PIN geändert. Warum wusste ich selbst nicht mehr so genau. Jetzt hatte ich einen Blackout und konnte mich nicht mehr an die geänderte Nummer erinnern. Was blieb mir übrig als es nochmal zu versuchen? Ich schaffte es tatsächlich dreimal die falsche PIN einzugeben. Oh mein Gott, dachte ich. Das kann alles nicht wahr sein… und ärgerte mich maßlos über mich selbst. Nun stand ich da, mitten in der Pampa und hatte weder Telefon noch Kamera in der Hand. Wieder einmal durchzog ein Schauer meinen ganzen Körper… Was mach ich denn jetzt??

Ein paar Meter weiter erreichte ich den kleinen Ort Itero de la Vega. Das erste Café im Ort war direkt meins. Nachdem ich meinen Rucksack abgestellt hatte, ging ich zur Bar und bestellte mir erst einen Café con leche und direkt danach ein Bier. Es war jetzt ca. 10 Uhr :-). Als ich einige Zeit so da saß und mir Gedanken machte, wie ich die Situation lösen könnte, sah ich wie Carolina aus Galizien, mit der ich aus Burgos los gelaufen war, ebenfalls das Café erreichte. Welch ein toller Zufall dachte ich! Sie könnte in diesem Moment meine Rettung sein. Ich ging auf sie zu und sie erkannte mich auch direkt wieder. Etwas beschämt erzählte ich ihr auf englisch von meinem Fauxpas. Sie lächelte und zögerte keine Sekunde, drückte mir ihr Handy in die Hand und sagte: „Ruf an wen du willst, kein Problem!“

Zum Glück konnte ich die Nummer vom Handy Laden in Bochum vorher noch mit Carolinas Smartphone „googlen“ und dann dort anzurufen. Ein Bekannter von mir, der dort arbeitet ging zum Glück direkt ans Telefon. Auch ihm erzählte ich meine etwas peinliche Story. Egal, dachte ich. Einfach erleichtert, dass er mir die PUK durchgeben konnte und sich so mein Handy wieder entsperren ließ. Ich umarmte Carolina und bedankte mich zutiefst bei ihr für ihre spontane Hilfe. Zu einem Getränk konnte ich sie nicht mehr einladen, da sie weiter wollte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Noch in dem Café setze ich mich hin und schrieb mir die wichtigsten Telefonnummern in mein Notizbuch. Daran hatte ich vorher einfach nicht gedacht und mich allein auf mein Smartphone verlassen. Diese Situation war mir eine Lehre. Nach einer kurzen Pause und tiefem Durchatmen ging es dann für mich voll motiviert und bester Laune weiter.

Wieder die endlosen Weiten der Meseta

Hinter dem kleinen Ort erwarte mich jedoch wieder die volle Breitseite der Meseta. Endlos lange gerade Wege die ins Nichts führten. Trockene, heiße Luft und keine Ablenkung für das Auge. Es war bisher an jedem Tag so, dass mich der Camino anzog wie ein Magnet und ich „süchtig“ wurde weiter zu wandern. Diese Abschnitte jedoch waren immer eine mächtige Herausforderung für Körper und Geist.

Nach einer ganzen Weile erreichte ich Boadilla del Camino und nutzte die Gelegenheit für einen weiteren Stop. Ich entdeckte ein Restaurant mit einem sehr schönen Innenhof.

Restaurante En El Camino

Zur Stärkung gönnte ich mir einen gemischten Salat und ein kühles Bier. Der Besitzer konnte deutsch und sprach mich direkt in meiner Muttersprache an. Wir hielten einen kurzen Smalltalk. Das Essen und das Bier waren die reinste Wohltat. Als ich meine Pause gerade beenden und aufbrechen wollte, erreichten Tom und Lisa das Restaurant. Sie schauten mich sehr verwundert an, als ich ihnen sagte, dass ich noch weitergehen werde. Bis zu meinem Tagesziel hatte ich noch ca. 1 ½ Stunden vor mir.

Auf dem Weg nach Fromista

Der Weg ging nicht sehr abwechslungsreich weiter. Am Canal de Castilla entlang erreichte ich nach knapp 90 Minuten Fromista. Die Albergue Municipal war für neun Euro heute meine Unterkunft. Im Vergleich zu den letzten Herbergen war diese wieder etwas „heruntergekommen“ und nur sehr zweckmäßig eingerichtet. Allerdings hatte ich zum ersten Mal kein Stock- sondern ein Einzelbett im Schlafsaal. Nach dem Einchecken und den Waschungen suchte ich das nächste Restaurant auf. Ich traf seit langem keine bekannten Pilger und saß heute allein beim Essen. Ein ungewohntes Gefühl nach der ganzen Zeit. Ich hatte aber auch keine große Lust heute neue Leute kennen zulernen. Beim Essen merkte ich die Strapazen des Tages, da es am Ende dann doch 34,1 km wurden. Nach dem Essen und einem kurzen Spaziergang zum Supermarkt warf ich noch einen Blick auf die Iglesia de San Martin, bevor es mich in die Herberge zurück zog. Bereits um halb 9 lag ich mit geputzten Zähnen und Ohropax im Bett…

Tag 13: Burgos – Hontanas

Ich hatte in der Nacht gut und lange geschlafen, Ohropax sei Dank :-). Meine ersten Schritte nach Verlassen der Herberge waren, sagen wir, etwas unkoordiniert. Da die Unterkunft nicht unmittelbar am Camino lag, brauchte ich etwas Zeit um das erste Erkennungsmerkmal (den gelben Pfeil) zu entdecken. Den anderen Pilgern erging es ähnlich. So kamen mir aus der ein oder anderen Gasse immer wieder Suchende entgegen… Burgos war die erste große Stadt, bei der es uns wohl allen schwer fiel in der Dunkelheit den richtigen Weg zu finden.

Da ich mittlerweile nicht mehr wirklich wusste an welchem Punkt ich mich in der Stadt befand, halfen mir die Straßenbezeichnungen, die im Wanderführer angegeben waren, nicht wirklich weiter. So griff ich notgedrungen zum Smartphone und lotste mich damit in die richtige Richtung. Mit Carolina aus Galizien, die ich beim Suchen des Weges kennen gelernt hatte, ging es dann zielsicher aus der Stadt raus. Wir hielten einen kurzen Smalltalk als der Tag so langsam erwachte und die Sonne am Horizont aufging.

Sonnenaufgang kurz nach Burgos

 

Carolina hatte im Verhältnis zu mir ein etwas gemächlicheres Wandertempo, sodass ich mich nach unserem kurzen aber sehr netten Gespräch wieder von ihr verabschiedete. 

Nachdem Burgos verlassen war, begann die Meseta spürbar. Flaches Land so weit das Auge reichte. Einige Pilger nahmen ab hier den Bus um die gut 170 km bis Leòn zu überbrücken und sich den Teil der Meseta zu ersparen. Das kam jedoch für mich nicht in Frage. Ich wollte erst in einen Bus steigen, wenn ich an meinem Zeil angekommen war, so zumindest war der Plan!

Auf einem Fußweg neben der N-120 erreichte ich nach knapp zwei Stunden und zehn Kilometern, Tardajos, wo ich an diesem Morgen gegen halb neun das erste Mal stoppte, um einen Kaffee zu trinken. Nach weiteren zwei Stunden über endlose Feldwege und an Getreidefeldern vorbei kam ich in Hornillos del Camino an, einer kleinen Gemeinde mit sage und schreibe 59 Einwohnern. Jedoch nicht das kleinste Dorf auf dem Camino. Ab hier zeigte sich die Meseta wieder von ihrer rauen und kargen Seite.

flaches Land soweit das Auge reichte

Den Weg entlang der Hochebene musste ich glücklicherweise nicht allein gehen, da ich auf Tom und Lisa traf. Beide kannte ich bis dahin noch nicht. Wir gingen zu dritt die letzten zehn Kilometer, die in der Mittagshitze eine brutale Herausforderung für uns alle waren. Jetzt war ich froh meinen Sonnenhut dabei zu haben, obwohl der kein optisches Highlight abgab :-).

Unverzichtbares Utensil in der Meseta

Als wir unter der sengenden Sonne und der heißen, trockenen Luft so dahin wanderten, musste ich daran denken, wie es den Pilgern hier wohl im Juli oder August ergehen musste, wenn das Thermometer die 40 Grad Marke locker überstieg und weit und breit kein Schatten zu ergattern war.

Nach weiteren knapp zwei Stunden durch die brutale Hitze erreichten wir gemeinsam unser Tagesziel, Hontanas. Das Dorf erschien buchstäblich aus dem Nichts. Es erinnerte schwer an den wilden Westen, so wie ich ihn mir vorstellte. Hontanas bestand aus zwei Herbergen und einer Kirche. Die Einheimischen versicherten uns, dass das Wasser aus dem Kirchbrunnen sehr gesund sei! Der Ortsname leitete sich von Brunnen (veraltet „fontanas“) ab.

Hontanas erschien quasi aus dem Nichts

Endlich angekommen um die Füße von den Schuhen zu befreien. Die heutige Etappe war kurz gesagt mental und körperlich einfach hardcore. Nach dem Duschen widmete ich der Fußpflege einen sehr großen Teil meiner Aufmerksamkeit. Zusammen mit Tom, Lisa und Katrin, die wir noch auf dem Weg nach Hontanas kennen lernten, verbrachte ich den Nachmittag auf der Terrasse der Herberge. Auch wenn das Dorf mitten im Nirgendwo lag, gab es hier LTE und es ließ mir doch keine Ruhe nachzusehen wie denn der FC am heutigen Samstag gespielt hatte. Meine Laune wurde durch das Ergebnis nicht besser, Köln verlor sein Heimspiel gegen Paderborn in der Nachspielzeit mit 3:5…

Als wir so auf der Terrasse abhingen, trudelte einige Zeit später auch Chris ein, den ich schon einige Tage nicht mehr gesehen hatte. So verbrachten wir den Nachmittag auf der Anlage und aßen gemeinsam zu Abend.

Ich merkte von Stunde zu Stunde wie ich müde wurde und mir der Tag in den Knochen steckte. Die 30 Kilometer heute hatten es einfach in sich. Kurz nach dem Sonnenuntergang wurde es zudem empfindlich kühl und so zogen wir uns alle nach und nach auf unsere Zimmer zurück.

Tag 12: Agés – Burgos

Zeitig wie immer ging es an diesem Morgen raus dem Bett. Ich taperte noch etwas verschlafen ohne Brille in meinen Flip Flops als erstes ins Badezimmer. Da die Herberge nur über wenige Steckdosen im Schlafraum verfügte, hatte ich mein Handy über Nacht zum Laden auf einen kleinen Sims dort gelegt. Im Badezimmer angekommen, musste ich feststellen, dass es dort nicht mehr war…

Ich schaute mich um… Da lag es, vor dem Sims auf dem Boden. Bei genauerem Hinsehen, traute ich meinen Augen kaum. Mein Telefon wurde über Nacht mit einer „Spider App“ ausgestattet… Das Display war an vielen Stellen gesprungen und hatte an einer Ecke eine richtig fette Macke. So ein Scheiß, dachte ich. Aus dem ersten Schockmoment heraus nahm ich es in die Hand und fühlte mit den Fingern über das Glas. Die Risse waren deutlich zu spüren. Ich holte es aus dem Standby und tippte auf das Display. Es reagierte und ließ sich noch bedienen! Glück im Unglück dachte ich und atmete tief durch. Sowas hatte ich auf meiner Reise nicht mit eingeplant… Mit dem Handy hatte ich doch bisher alle Fotos gemacht und plante auch meinen Rückflug darüber zu buchen. Durch das kaputte Display werde ich mir vor dem Rückflug irgendwo ein Ticket ausdrucken müssen… Aber bis dahin war noch viel Zeit.

Überraschung am frühen Morgen in Agés

Nachdem ich den nächsten Schock auf meiner Reise, ausgerechnet wieder ganz früh am Morgen überwunden hatte und mein Puls wieder Normalform erreichte, machte ich mich fertig. Mit gepacktem Rucksack ging es in den Vorraum der Herberge, wo alle Pilger ihre Schuhe über Nacht lagerten. Ich kann euch sagen, immer wieder ein Fest für den Geruchssinn 🙂

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Schuhregal im Vorraum der Herberge von Agés

Wer jetzt mit der nächsten Hiobsbotschaft rechnet, als ich das Schuhregal erreichte, dem kann ich Entwarnung geben! Meine Schuhe waren noch an ihrem Platz, genau dort wo ich sie gestern abgestellt hatte…

Warum ich das jetzt erwähne!? Nun, es ist tatsächlich vorgekommen, dass Pilger morgens ihre Schuhe vermissten, jedoch wirklich selten. Nicht weil sie jemand mit Absicht gestohlen hatte, sondern es passierte, dass man in der Früh zum falschen Paar griff, weil jemand die gleiche Marke und Farbe trug und man beim Anziehen nicht merkte, dass dieses eine Nummer zu groß war… Und wenn man es dann feststellte, war es oft so, dass man den Besitzer nicht mehr wiedersah. So musste man sich wohl oder übel bei nächster Gelegenheit ein neues Paar zulegen…

Niemand möchte in zu kleinen Schuhen weiterlaufen, schon gar nicht mit einem fremden Paar. Zum Glück war mir so etwas während meiner ganzen Reise nie passiert!

Allerdings checkte ich jetzt jeden Morgen zweimal ob meine Sachen im und am Rucksack alle vollständig waren. So etwas wie in Santo Domingo de la Calzada sollte mir unter keinen Umständen wieder passieren. Als ich den kleinen beschaulichen Ort Agés verließ, folgte direkt die erste Herausforderung des noch jungen Tages. Diesmal war es ein beschwerlicher und teils sehr steiniger gut 45-minütiger Aufstieg auf die Hochebene Matagrande in 1078m Höhe.

sehr beschwerlicher Aufstieg auf die Hochebene Matagrande

Jeder Schritt musste hier sorgfältig überlegt sein, da die teils spitzen Steine, die aus dem Boden ragten geradezu eine Einladung zum Umknicken waren. Den Aufstieg konnte ich gut und ohne Blessuren meistern. Etwas verschwitzt kam ich auf der Hochebene an. Dort oben war es am frühen Morgen noch empfindlich kühl und sehr windig. Die Sonne ging langsam am Horizont auf und das Tal wurde nun Stück für Stück mit den warmen Strahlen erwärmt. Mein heutiges Etappenziel konnte ich bereits mit bloßem Auge durch die fantastische Sicht in der Ferne schon erkennen. Burgos war ab hier allerdings noch gute 23 km von mir entfernt…

Blick von der Hochebene Matagrande auf Burgos in weiter Ferne

Beim Abstieg von der Hochebene traf ich Gerd aus Düsseldorf. Wir waren uns schon ein paarmal auf dem Camino begegnet, hatten uns aber nie wirklich unterhalten. Auf dem Weg zum ersten Stopp des Tages holten wir dies nach. So erfuhr ich unter anderem, dass er Apotheker war, 20 Angestellte hatte und nach vielen Jahren stressiger Arbeit dringend eine Auszeit benötigte. Wir unterhielten uns hauptsächlich über den Camino, aber auch die persönlichen Gründe hier zu sein. Ich erzählte Gerd von meiner familiären Situation der letzten Jahre und dass ich beinahe doch wieder zu Hause geblieben wäre, weil ich dachte, jetzt nicht weg zu können. Er konnte meine Situation sehr gut nachvollziehen.

Nach erfolgreichem Abstieg entdeckten wir am Wegesrand ein sehr schönes Café. Als wir es betraten entdeckten wir die bisher geilste Auswahl an Essen. Es gab Baguettes, Eier in allen Variationen, Würstchen und noch vieles mehr :-). Ein Fest für die Sinne, diesmal im Positiven 🙂 um ca. neun Uhr morgens. Wir ergatterten im Außenbereich des Cafés einen Platz in der Sonne, der uns etwas aufwärmte, da es immer noch sehr kalt war. 

reichhaltiges Frühstück auf dem Weg nach Burgos

Auch Ivan war mittlerweile am Café eingetroffen. Nach der Pause gingen wir gemeinsam weiter, Gerd verweilte noch länger am Café und so verabschiedeten wir uns erst einmal wieder. Ivan berichtete mir, dass ich in der letzten Nacht in unserer Herberge ziemlich laut geschnarcht hätte und eine Argentinierin an unser Stockbett kam um dies „abzustellen“. Sie vermutete erst, dass Ivan der Schuldige wäre. Er lachte beim Erzählen der Geschichte und meinte sie hätte so fest gerüttelt, dass das ganze Bett gewackelt hätte. Erst dadurch sei er wach geworden. Ich hatte von alledem nichts mitbekommen und konnte kaum glauben was er mir da erzählte. So fest schlief ich doch sonst nie! Es war mir ein bisschen peinlich, aber ich musste dennoch darüber lachen…

Bei nächster Gelegenheit wollten wir zwei ein Bier zusammen trinken. Jedoch fanden wir bis Burgos tatsächlich keine weitere Möglichkeit dazu, oder hatten es beim Quatschen einfach übersehen :-). So kamen wir knappe 23 km später in Burgos an. Auf dem Weg erfuhr ich von seinen weiteren Reisezielen und Erfahrungen die er im Ausland gesammelt hatte. Als wir an der Herberge ankamen, trafen wir auf eine lange Schlange von Pilgern, die bereits auf Einlass warteten.

Warten auf den Einlass in der Herberge in Burgos

Eine gute halbe Stunde verging, bevor auch ich meinen Schlafplatz beziehen konnte. Die Herberge war super modern und verfügte über nagelneue Sanitärbereiche. Es war erst 13 Uhr und so machte ich mich schnell fertig, um in die Stadt zu kommen. Burgos war sehr sehenswert und empfing seine Besucher mit tollen Gebäuden und einer schönen Altstadt. Nach dem recht kalten Morgen war es jetzt wieder knalle heiß. Am Himmel war keine Wolke zu erkennen und das Thermometer zeigte knapp über 30 Grad an. Ich ging zum nächsten Supermarkt und besorgte mir erstmal etwas kaltes zu trinken. Mit der Flasche in der Hand schlenderte ich in Flip Flops und kurzen Sachen durch die Gassen der Stadt.

Das Wahrzeichen der Stadt, die Catedral de Santa Maria

Ein gezieltes Sightseeing stand jedoch nicht auf meinem Plan. Ich wollte mir einfach ganz entspannt einen ersten Eindruck von Burgos verschaffen und die Stadt auf mich wirken lassen. Als ich nach einiger Zeit wieder am Platz vor der Kathedrale ankam, lief mir Gerd in die Arme. Auch er war heute bis Burgos gekommen. Wir kauften für den nächsten Tag noch ein paar Kleinigkeiten im Supermarkt ein und entdeckten kurze Zeit später in einem Restaurant Nahe des Plaza Rey San Fernando eine schöne Sitzgelegenheit im Außenbereich.

Auch hier gab es das traditionelle Pilgermenü. Leider nicht wie auf der Karte angegeben mit Paella. Diese war zu meinem Pech an diesem Tag ausverkauft. Dabei hatte mich beim Lesen der Karte doch schon so darauf gefreut endlich mal wieder eine Paella in Spanien essen zu können, wo ich schon mal da war. Aber daraus wurde leider nichts… Es gab alternativ Spaghetti Bolognese oder ein Hähnchen mit Pommes. Selbstredend zur Begleitung mit einem guten Rotwein. Ich wählte das Hähnchen. Wir bestellten unser Essen, genossen die Atmosphäre und beobachteten das Treiben auf und neben dem Platz. Burgos war bis jetzt die größte Stadt in der wir halt machten. Um uns herum gab es viel zu sehen und zu entdecken…

JGA in Burgos auf dem Jakobsweg

Bitte entschuldigt die Wackler bei der Kameraführung, aber die Musik animierte mich einfach zum Mitmachen :-).

Nach dem tollen Essen entschloss Gerd sich zeitig in sein gebuchtes Hostel zurückzuziehen. Er war ziemlich platt von der heutigen Etappe. Ich blieb noch etwas sitzen und ließ die Atmosphäre auf mich wirken bis es dunkel wurde. Machte mich dann aber auch auf den Weg zurück zur Herberge. Der Blick in den Reiseführer verriet mir, dass es auch die morgige Etappe in sich haben wird. Also war es Zeit ins Bett zu verschwinden, um morgen ausgeruht starten zu können. Bereits um kurz nach neun Uhr schlief ich ein.

Tag 11: Belorado – Agés

An diesem Morgen führte mich der erste Weg nach dem Verlassen der „Pool-Herberge“ direkt zum Geldautomaten, da ich erst in Burgos, also in knapp 50 km wieder die Möglichkeit hätte, meinen Bargeldbestand aufzufüllen. Mit der VISA Karte war dies zum Glück auch im Ausland kostenlos möglich und super bequem. Nachdem dies noch vor dem Sonnenaufgang erledigt war, machte ich mich auch direkt auf den Weg. Nach ein paar Metern fiel mir ein außergewöhnlicher Fuß- und Handabdruck am Boden auf.

Berühmter Fuß- und Handabdruck in Belorado

Neben einigen eher spanischen Persönlichkeiten hatte sich auch Martin Sheen vor ein paar Jahren hier verewigt. Zusammen mit Emilio Estevez drehte er hier im Jahre 2010 den Film „Dein Weg“ . Als ich das Foto im Kasten hatte, ließ ich Belorado endgültig hinter mir. Nach etwas eintönigen Wanderungen durch Getreidefelder, war der breite Weg bis Tosantos links des vegetationsreichen Bachlaufs die reinste Wohltat. Die N-120 war noch gut zu vernehmen, da diese nicht weit entfernt davon ein gutes Stück parallel zum Weg verlief.

Ich kam durch ein paar kleinere Orte und stoppte nach ca. 1 ½ Stunden in einem davon. Zum Frühstück gönnte ich mir natürlich einen Café con leche, sowie ein Baguette und eine Banane. Jeden Morgen freute ich mich aufs Neue wie ein kleines Kind auf meinen ersten Kaffee! Nach der Pause verließ ich Espinosa del Camino und mich erwartete der nächste Aufstieg. Es ging in die Montes de Oca, was übersetzt soviel bedeutet wie „Berge von Gänsen“. Als ich den anspruchsvollen Aufstieg hinter mich gebracht hatte, erreichte ich auf 1155 Meter Höhe das Denkmal für die 1936 im Bürgerkrieg erschossenen Republikaner.

Die Inschrift lautet: „Nicht ihr Tod war sinnlos, sondern ihre Erschießung. Mögen sie in Frieden ruhen“.

Denkmal für die im Bürgerkrieg 1936 erschossenen Republikaner

Nach dem kurzen Innehalten am besagten Denkmal ging es weiter durch einen tiefen Taleinschnitt mit weiteren Ab- und Aufstiegen. Hinter diesen ging es auf einem breiten Forstweg weiter, bevor ich die Oasis del Camino erreichte. Ein schöner kleiner Fleck auf dem Weg, mitten im Wald. Schon aus der Entfernung erkannte ich viele bekannte Gesichter wieder. Gemeinsam machten wir hier die nächste Pause.

Kurze Pause mit vielen bekannten Gesichtern

Es ging weiter Richtung San Juan de Ortega. An der Oase traf ich Ivan wieder und wir unterhielten uns beim Laufen diesmal länger und ausgiebiger als bei unseren vorherigen Treffen. Unser gemeinsames Thema war das Reisen. Jedoch „praktizierte“ er dies anders als ich es gewohnt war 😊. Ivan ist Travelblogger und hatte sich vor einigen Jahren entschieden seinen „9 to 5“ Job an den Nagel zu hängen, um sich ganz auf das Reisen konzentrieren zu können. Sehr aufmerksam, neugierig und ich muss zugeben auch etwas neidisch lauschte ich seinen Worten. Es war einfach mega interessant und spannend ihm zuzuhören um zu erfahren in welchen Teilen der Welt er schon war.

Ivan war in der letzten Zeit u.a. auf den Philippinen, in Brasilien und Dubai. Ich konnte seinen Worten sehr gut folgen, da er mit leichtem kroatischem Akzent ein sehr klares Englisch sprach. Wir vergaßen beim Unterhalten beinahe völlig zu Zeit. Als wir nicht mehr weit von San Juan de Ortega entfernt waren, warf ich einen Blick auf den Zettel, den ich in Saint Jean Pied de Port erhalten hatte. Auf diesem waren alle Herbergen des Weges verzeichnet. Der Zettel verriet mir, dass es in San Juan nur eine einzige Herberge gab. Da wir noch gut in der Zeit waren, entschlossen wir uns hier nur für ein kühles Bier zu stoppen.

Auf dem Weg nach Agés führten wir unsere Unterhaltung über das Reisen fort und er erzählte mir, dass er ein Apartment in Kroatien besitzt, in das er mich sehr gerne einmal einladen würde um mir seine Stadt Varaždin zu zeigen. Ich freute mich sehr und bedankte mich für sein Angebot, war aber auch gleichzeitig etwas skeptisch ob wir nach unserer Mission hier wirklich in Kontakt bleiben würden. Nach knapp 30 km erreichten wir Agés. Schnurstracks zog es uns in die Herberge Municipal. Wir waren total durchgeschwitzt und von innen ziemlich ausgetrocknet… Auch an diesem Tag war es wieder knüppelheiß und der Weg bot uns bis auf die Passage an der Oase wenig Schatten.

Obwohl der kleine Ort nur offiziell 65 Einwohner hatte, gab es hier drei Herbergen und so musste sich niemand Sorgen machen ein Bett für die Nacht zu bekommen. Glücklich angekommen zu sein, checkten wir ein und begaben uns an die üblichen Rituale. Der städtischen Herberge war ein Restaurant angeschlossen. Nach der kalten Dusche trafen wir uns alle im Außenbereich des Restaurants wieder und fanden genügend freie Plätze im Schatten. Ich nutzte die Zeit um den Tag Revue passieren zu lassen und meine Eindrücke nieder zuschreiben. Das gelang mir nur „lückenlos“, wenn ich bereits auf dem Weg Stichpunkte sammelte. Wenn ich meine Etappenziele erreichte, hatte ich das meiste schon wieder vergessen, obwohl es erst wenige Stunden her war. Über den Tag verteilt waren es einfach zu viele Eindrücke, Gespräche und Erlebnisse, die ich mir im Detail nicht merken konnte. Beim Lesen der Stichpunkte fiel mir dann zum Glück wieder alles ein!

Erlebnisse und Eindrücke des Tages festhalten

Nachdem die „Arbeit“ erledigt war, setzte ich mich zu den anderen an den Tisch. Ivan orderte direkt ein kaltes Cerveza für uns zwei.

verdiente Abkühlung in Agés

Gemeinsam ließen wir den Nachmittag ausklingen und tauschten unsere Erlebnisse untereinander aus. Wir verweilten die gesamte Zeit im Außenbereich des Restaurants, da das Wetter immer noch perfekt war. Als es Zeit für das Abendessen wurde, genehmigten sich fast alle ein Pilgermenü. Hier gab es Spargel mit Serrano-Schinken, sowie Eier und Kartoffeln. Zum Nachtisch ein paar Melonenscheiben. Jetzt wo ich es niederschreibe bekomme ich direkt wieder Hunger :-). Ich denke den Wein muss ich an dieser Stelle nicht mehr extra erwähnen… Wir saßen noch lange draußen zusammen, bis die Sonne verschwand und es merklich kühler wurde. Unsere Uhren verrieten uns, dass es Zeit war ins Bett zu gehen. Gute Nacht!

Sonnenuntergang in Agés

Tag 10: Santo Domingo de la Calzada – Belorado

Alles wie gehabt, es ging wieder früh los, so wie an jedem Morgen. Aber eine Sache war trotzdem anders. Nachdem ich mich in der Herberge fertig gemacht hatte und bereits ca. zwei Kilometer davon entfernt war, bemerkte ich, dass ich meine Bauchtasche in der Herberge vergessen hatte. Ja genau, das Teil wo mein Geld, mein Ausweis, meine Visa Karte drin war. Verrückt, da ich mich gestern noch mit einer Pilgerin darüber unterhalten hatte, wann ich wohl zum ersten Mal etwas in einer Herberge vergessen werde und es erst drei Tage später merken würde.

„Scheisse!“ dachte ich und nachdem ein eiskalter Schauer meinen ganzen Körper durchzog, machte ich auf dem Absatz kehrt und ging so schnell ich konnte zur Herberge zurück. Fast alle Pilger, die mir jetzt entgegenkamen, sahen mich mit verwunderten Augen an. Niemand ging von Santiago weg in die andere Richtung des Weges. Diese knapp zwanzig oder dreißig Minuten Ungewissheit fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Was ist, wenn die Bauchtasche nicht mehr am Kopfteil des Bettes war, da wo ich sie nach Möglichkeit immer befestigte, bevor ich zu Bett ging?? Es schossen mir zig Gedanken durch den Kopf. Meine Reise wäre wohl hier und jetzt beendet gewesen wenn sie nicht mehr da wäre. Mich hätten Behördengänge erwartet und keine weiteren Wanderungen. Der Traum in Santiago anzukommen würde sich nicht erfüllen.

Ich erreichte die Herberge und rannte fast schon zu meinem Bett. So gut wie alle Pilger hatten den Schlafsaal bereits verlassen. Jetzt schnell zum Kopfteil und das Kissen weggezogen. Da hang sie, meine Bauchtasche. Genauso wie ich sie festgemacht hatte. Meine Erleichterung war grenzenlos. Ich atmete mehrmals ganz tief durch und war einfach nur dankbar. Ich hätte es in Kauf genommen, wenn mir Geld gefehlt hätte, weil es jemand in der Not gebraucht hätte. Aber wenn meine Papiere weg gewesen wären, hätte diese Reise hier und jetzt ein Ende gefunden.

Nach der riesigen Erleichterung ging es wieder zurück auf den Weg. Die Strecke war an diesem Tag fast Nebensache nach der Aufregung und den Sorgen am Morgen. Nachdem ich Santo Domingo verlassen hatte, überquerte ich das ausgetrocknete Flussbett des Rio Oja. Am Randstreifen der N-120 entlang ging es weiter, bis ich in einen Feldweg abbiegen konnte. Dieser zog sich entlang der Autobahn. Mit einem Mal erstreckte sich ein riesiges Sonnenblumenfeld vor meinen Augen. Das allein war schon ein Wahnsinns Anblick. Doch nicht nur das. Bis weit in das Feld rein, waren alle Sonnenblumen mit Initialen oder kleinen Botschaften verziert. Der Camino verlief eine ganze Weile parallel zum Feld. Eine wohltuende Ablenkung zur Autobahn und gleichzeitig Balsam für die Seele, immer wenn ich eine tolle oder liebe Botschaft entdeckte.

bis weit in das Feld hinein konnte man etwas „Geschriebenes“ entdecken

Als ich das Feld hinter mir ließ, erwarteten mich jedoch wieder sehr karge Landschaften und abgeerntete Weidefelder. Ich erreichte die Region Castilla y León / Provinz Burgos. Im Frühjahr sah es hier bestimmt ganz toll aus, wenn alles grün und saftig erstrahlte. Jetzt offenbarten sich mir allerdings Felder auf denen sich die hohen Strohhaufen türmten.

aufgetürmte Strohballen am Weg

So wie gestern auch, stoppte ich öfter um die kurze Zeit zur Erholung und Regeneration nutzen zu können.  Ich durchlief viele kleine Ortschaften, in denen es sich anbot immer mal kurz zu verweilen um den Akku aufzuladen. Bereits um kurz vor 14 Uhr erreichte ich mein Tagesziel, Belorado. Auf dem Kilometerzähler meiner Uhr erschien die Zahl 22. Als ich den Ort erreichte und gerade an der ersten Herberge vorbeilaufen wollte um ins Zentrum zu gelangen, hörte ich eine Stimme die meinen Namen rief: „Stephan, komm hier hoch, es gibt einen Pool!“ Verwundert schaute ich nach oben, da die Herberge auf einer Anhöhe lag. Es war Louise die mir zurief. Sehr unglaubwürdig entgegnete ich ihr: „Verarsch mich doch nicht“ :-). Doch sie bestärkte ihre Aussage und so stoppte ich und ging den Weg nach oben.

Mein Blick schweifte über die Anlage und ich konnte es kaum glauben. Da war ein kleiner aber feiner Pool mitten im Grünen neben der Herberge und dem Restaurant. Heute Morgen hätte ich mit allem gerechnet und auch, dass mein Weg eventuell enden müsste und jetzt belohnte mich der Camino mit dieser herrlichen Anlage, die ich völlig übersehen hätte, wenn Louise mich nicht beim Vorbeilaufen aufgehalten hätte. Ich überlegte nicht lange und checkte ein, kümmerte mich kurz um meine durchgeschwitzten Anziehsachen und suchte sofort wieder den Weg zurück in den Garten. Julius, Chris und Ivan erreichten die Herberge ebenfalls kurze Zeit später. Bei stahlblauem Himmel und ca. 25 Grad ließen wir uns nieder und genossen gemeinsam den ganzen Tag am Pool. Ab jetzt folgte eine Runde Sangria nach der Nächsten. Die Bilder, die ich jetzt nach Hause schickte, glichen Urlaubsfotos und von einem anstrengenden Pilgerweg konnte man hier nichts zu erkennen.

Badewetter in Belorado

Der Nachmittag verging so natürlich wie im Flug. Wir genossen das Wetter und die Abkühlung im Wasser im ständigen Wechsel. Als so langsam die Dämmerung einsetzte, gingen wir alle in die Herberge um uns für das Abendessen fertig zu machen. Kurze Zeit später trafen wir uns im Restaurant wieder um unseren Hunger mit einem traditionellen Pilgermenü zu stillen. Für nur 11 Euro bekamen wir eine reichliche Auswahl an tollen Speisen und der Region angemessen natürlich auch noch einen schmackhaften Rotwein.

klassisches Pilgermenü in Belorado

Nachdem wir uns alle satt gegessen hatten setzte auch so langsam die nötige Bettschwere ein. Der Stress von heute morgen war längst vergessen. So suchte ich mein Bett auf und schlief ein wie ein Stein.

Tag 9: Najera – Santo Domingo de la Calzada

Nachdem ich mit einiger Mühe doch noch etwas Schlaf bekommen hatte in der Affenhitze, begann der Tag kurz nach dem Aufwachen auch direkt wieder mit Stress in der Herberge. Durch das Licht und das Gewusel der ca. 80 – 90 Pilger wurde ich abrupt wach, da sich gefühlt alle zeitgleich fertig machten und die wenigen Toiletten und Waschräume aufsuchten. Mit etwas Glück konnte ich mich schnell durch dieses Chaos an Menschen kämpfen und sah zu, so schnell es ging Meter zu machen. Den morgendlichen Gang zum Klo ließ ich sausen, was mir, wie ihr euch sicher denken könnt, sehr schwer fiel. Aber die Schlange vor der Toilette war einfach nicht mehr normal und das Warten hätte bei mir womöglich für ein Unglück gesorgt :-). So hoffte ich in der Nähe auf ein Café welches bereits offen hatte. Beim Verlassen der Herberge war mir klar, dass ich diese nicht so schnell vergessen werde…

kurz vor 7 Uhr in Nájera.

Die ersten Meter waren wieder verwirrend, da sich mir der Weg nicht auf Anhieb erschloss und auch keine eindeutige Markierung zu erkennen war. Zum Glück entdeckte ich einige Meter weiter ein Café welches bereits geöffnet hatte und vor dem ein paar Pilger bereits ihren ersten Kaffee zu sich nahmen. So war mein dringendes Problem am Morgen direkt gelöst! Denkt ihr gerade an Situationen bei denen es euch ähnlich ergangen ist?! Diese Art der „Geschäfte“ sind auf dem Camino natürlich ein kleines Problem wenn man raus aus der Stadt oder dem Dorf ist, da es unterwegs nun mal keine Toiletten gibt. Für den allergrößten Notfall hatte ich eine kleine Rolle Toilettenpapier im Rucksack, die ich zum Glück nie benötigte. Sie erfüllte jedoch trotzdem ihren Zweck, da ich wusste, für so einen Fall gerüstet zu sein.

In Azofra gönnte ich mir nach knapp 1 ½ Stunden den ersten Kaffee dieses Tages. Schon nach dieser kurzen Strecke merkte ich wie die letzten Tage an mir gezerrt hatten. Meine Füße schmerzten. Also hieß es direkt raus aus den Schuhen, auch wenn ich noch nicht wirklich lange unterwegs war. In dem Moment beschloss ich ab jetzt mehr Stopps über den Tag verteilt einzulegen um mir und meinen Füßen zwischendurch die nötige Erholung zu gönnen. Nach der wohltuenden Pause ging es weiter auf Schotterwegen entlang der Getreidefelder, bevor es wieder einen langen Anstieg gab.

Der Plan mit der geringeren Belastung ging nur bedingt auf, als ich zwei Pilger vor mir entdeckte, die ihren eigenen, sowie einen weiteren Rucksack zwischen sich trugen. Dieser war an zwei Gehstöcken aufgehangen, die die beiden vor oder sich über den Schultern hielten. Der Rucksack baumelte beim Laufen so ziemlich hin und her. Als ich sie einholte, sprach ich sie an und erfuhr, dass eine Frau aus Amerika ihren Rucksack nicht mehr weitertragen konnte, da sie starke Rückenschmerzen bekommen hatte. So hatten es sich die beiden zur Aufgabe gemacht ihren Rucksack bis zur nächsten Stadt zu tragen. Die Aktion gab jedoch ein komisches Bild ab, da die Zwei unterschiedlich groß waren und der Rucksack so immer zu einer Seite rutschte. Kurzerhand erlöste ich den Kleineren der beiden vom Tragen. Der Gepäckträger an meiner Seite hieß Dora und kam aus Italien. Wir unterhielten uns beim Laufen so gut es ging auf englisch. Das Ganze war nämlich anstrengender als ich dachte. Nicht wegen dem Gewicht, sondern eher wegen der Koordination den Rucksack so zu halten, dass es für uns beide angenehm war. Nach ca. einer Stunde erreichten wir etwas verschwitzt die nächste Stadt, Cirueña. Hier konnten wir den Rucksack der Pilgerin in der Herberge ablegen und uns von der zusätzlichen Last befreien. Zur Belohnung gönnte ich mir selbst ein Cerveza. Dora ging direkt weiter. So trennten sich unsere Wege wieder.

Santo Domingo war von hier nur noch knapp 6 km entfernt.  Nach der Pause in Cirueña erreichte ich bereits um kurz vor 13 Uhr mein Tagesziel. Die Etappe war wieder nicht besonders lang (20,8 km), aber für mich heute völlig ausreichend. Mein Weg führte mich trotz des erlebten Horrors vom Vortag direkt in eine große Herberge. Was soll ich euch sagen!? Diese Unterkunft war einfach ein Traum! Tolle Zimmer, große Waschräume. Alles super und überhaupt kein Vergleich zu gestern. Sie trug den tollen Namen: Casa de la Cofradía del Santo in Santo Domingo de la Calzada :-).

Der Camino nimmt und der Camino gibt…

Kochen und singen in Santo Domingo de la Calzada

Nach der Dusche und den üblichen Erledigungen zog es mich in die Stadt. Es war erst 15 Uhr und ich war super froh, dass der Tag noch so viele Stunden hatte, die man hier genießen konnte. Einige Pilger machten sich in der Küche der Herberge eine Kleinigkeit zu essen und kochten zusammen. Auf meinem Weg in die Stadt traf ich auf Julius und Louise, die nun auch so langsam mal in der Stadt eingetrudelt waren. Nachdem die beiden sich fertig gemacht hatten, verbrachten wir gemeinsam einen super schönen Nachmittag.

Als es Zeit für das Abendessen wurde, gingen wir zurück zur Herberge. Wir beschlossen mit einigen anderen Pilgern essen zu gehen, da es ganz in der Nähe ein kleines Restaurant gab.

Gemeinsames Abendessen in Santo Domingo de la Calzada

Nach der kurzen Etappe und dem gemütlichen Abendessen wurde es für uns alle Zeit ins Bett zu gehen.

Tag 8: Logroño – Najera

An diesem Morgen startete ich wieder allein. Da die Herberge nicht direkt am Jakobsweg lag, waren die ersten Meter aus der Stadt raus etwas chaotisch. Vielleicht lag es auch daran, dass ich noch nicht ganz wach war :-). Ich konnte jedoch weitere Pilger entdecken die mit ihren Handlampen nach dem richtigen Weg suchten. So war ich mit meiner Verwirrung nicht ganz allein… Mit etwas Mühe fanden wir dann doch den Weg aus der Stadt raus. Gegen kurz vor acht Uhr kam ich an einer Schule vorbei. Beim Laufen überholte ich ein paar Schüler auf dem Gehweg. Mir fielen direkt die Uniformen der Kinder auf. Die Jungs trugen eine graue Hose, einen dunklen Pullover und schwarze Schuhe. Die Mädchen hatten einen grauen Rock, ein dunkelrotes Oberteil, dunkelrote Socken und ebenfalls schwarze Schuhe an. Ich musste an meine Schulzeit denken und wie es damals „klamottentechnisch“ bei uns zuging. Gerade so zu Zeiten der Pubertät. Welche Marken waren gerade angesagt, welche gingen gar nicht und was musste man an haben um „in“ zu sein. Meine Eltern hatten schlichtweg nicht das Geld, uns drei Jungens sämtliche Klamottenwünsche zu erfüllen. Zumal meine Mama mir auch den Vogel zeigte, als ich ihr erzählte, dass so ein Best Company oder Blue System Pullover um die 200 Mark kosten sollte. Der ein oder andere kann sich jetzt vielleicht daran erinnern und es fallen euch bestimmt noch weitere Marken ein, die damals so gehandelt wurden:-) Mama sagte nur, „für das Geld bekomme ich locker fünf Pullis“. Und so war das Thema dann auch beendet. Da gefiel mir die Lösung mit den Schuluniformen hier viel besser.

Park außerhalb der Stadt von Logroño

Entlang eines Parks verließ ich dann endgültig die Stadt. Über Schotterwege und Trampelpfade ging es immer weiter Richtung Navarrete. Nach knapp drei Stunden war es Zeit für einen ersten Stopp. Natürlich mit einem Café con leche und einem frisch gepressten zumo de naranja. Ich ging weiter und meinen ersten Stempel erhielt ich heute an einer Holzhütte am Weg. Hier hatte es sich ein ehemaliger Pilger zur Aufgabe gemacht die Reisenden mit einem Imbiss und Andenken zu versorgen. Natürlich wieder alles auf Spendenbasis. Diesen Anblick werde ich nie vergessen, da der Mann in der Holzhütte aussah wie der Nikolaus. Ich weiß was ihr jetzt denkt, ein Foto wäre toll gewesen. Leider hatte ich in diesem Moment nicht daran gedacht. Kurz vor Ventosa traf ich die „Deutschen“ wieder. Wir unterhielten uns über die bisher zurückgelegten km auf der Etappe.

unwegsames Gelände auf dem Weg nach Najera

Heute fiel mir jeder Schritt sehr schwer. Ich konnte nicht einmal sagen warum. Die ersten Kilometer ging es wieder an unzähligen Weinbergen entlang. Die Strecke verlief flach und es gab kaum Anstiege. Erst kurz vor Ventosa wurde der Weg, wie auf dem Bild zu sehen anstrengender und unangenehmer und ich musste sehr darauf achten wo ich hin trat. Das Frühstück in der Pause brachte mir auch nicht die gewünschte Energie. Nach gut 20 km kamen wir in Ventosa an, es war mittags. Hierzubleiben war jedoch keine Option für mich, da es einfach noch zu früh am Tag war. Nach zwei kühlen Bieren ging es weiter. Um mich zu pushen nutzte ich erstmals Spotify auf meinem Handy und stopfte mir die Kopfhörer ins Ohr. Die letzten knapp 10 km bis Najera waren wieder hart, trotz der Musikmotivation. Der Weg zog sich gefühlt wie ein Kaugummi, die Strecke war eintönig und wenig abwechslungsreich. Zudem brannte die Sonne ordentlich, sodass ich auf meinen schicken Sonnenhut zurückgreifen musste.

Mit Sonnenhut und Kopfhörern Richtung Najera

Als ich die dann ziemlich geschafft die öffentliche Herberge erreichte, traf ich vor dem Eingang auf eine lange Schlange. Die Unterkunft hatte erst seit 15 Uhr offen, jetzt war es 15.30 Uhr. So stellte ich mich in die Reihe der Pilger. Hier ging auch nach 20 Minuten nix voran. Ich konnte leider nicht sehen woran das lag und was denn da wohl solange dauert. Als ich endlich die Eingangstür der Herberge erreichte, sah ich den Grund für das lange Warten. Eine sehr alte Dame füllte die persönlichen Daten jedes Pilgers mit sehr großer Sorgfalt in ein Buch. Im Anschluss daran nahm ein Herbergsvater, ebenfalls im fortgeschrittenen Alter jeden Pilger einzeln und persönlich in Empfang um ihn zu seinem Schlafplatz zu begleiten. Ein toller Service könnte man denken. Mir war aber nach dem langen Tag fast die Hutschnur geplatzt…  Bitte nicht falsch verstehen, ich wusste das Engagement in der Herberge sehr zu schätzen, wollte aber einfach aus meinen verschwitzen Sachen raus und unter die Dusche.

Um sage und schreibe 17 Uhr war es endlich soweit und ich konnte mein Bett beziehen. Wäre ich doch in Ventosa geblieben dachte ich in diesem Moment. Oder ich hätte mir eine andere Herberge im Ort gesucht. Jetzt war es egal. Ich wollte einfach nur Duschen. Nachdem ich mein Bett bezogen hatte, beeilte ich mich um unter die Dusche zu kommen. Hier wartete die nächste Überraschung auf mich. Diese Herberge hatte Platz für 90 Pilger, aber nur jeweils zwei Duschen für Frauen und Männer.

Wieder hieß es Geduld beweisen, anstellen und warten. Kurz vor der Abendbrotzeit war dann alles erledigt und ich zog mit einigen Pilgern in die Stadt. In einem Supermarkt kaufte ich Wasser für den nächsten Tag, spontan noch ein 3er-Pack Stiel eis dazu. Eines davon schenkte ich draußen vor dem Supermarkt einer jungen Mutter mit ihrer Tochter. Die kleine war total happy und lächelte mich freudestrahlend an. In einer Bar nahe der Herberge ließen wir Pilger uns nieder und verbrachten dort gemeinsam den Abend.

Als wir zurück in der Herberge waren machte ich eine freudige Entdeckung. In dem riesigen Schlafsaal gab es tatsächlich eine Klimaanlage und sie war eingeschaltet.

Bett an Bett in dem riesigen Schlafsaal in Najera

Kurz bettfertig gemacht und ab in die erste Etage des Doppelstockbettes. Völlig k.o. und mit Ohropax ausgestattet schlief ich sofort ein. Meine Freude über den gekühlten Schlafsaal wehrte leider nicht allzu lange. Mitten in der Nacht wurde ich wach, da ich zur Toilette musste. Dabei bemerkte ich, dass die Luft unerträglich stickig und heiß war. Die Klimaanlage war tatsächlich aus. Unfassbar dachte ich. Die paar geöffneten Fenster an den Seiten der Herberge brachten bei der Masse an Leuten gar nichts. Als ich den Flur betrat, kam mir direkt ein kalter Luftzug entgegen und ich spielte tatsächlich ganz kurz mit dem Gedanken, mich mit meinem Schlafsack auf die unbequeme Holzbank im Vorraum der Herberge zu legen. Zurück von der Toilette verwarf ich den Gedanken jedoch, da ich am nächsten Morgen nicht mit Rückenschmerzen in die nächste Etappe starten wollte. Also hieß es Augen zu und durch. Ich kletterte zurück in mein Etagenbett und versuchte zu schlafen. Auf meinen Schlafsack konnte ich bei der Bullenhitze getrost verzichten.  

Tag 7: Torres del Rio – Logroño

Noch vor meinem Wecker ging es raus aus den Federn. Mein Körper hatte sich mittlerweile an die Aufstehzeiten auf dem Camino gewöhnt und holte mich so aus dem Schlaf. Es war kurz vor 7 Uhr. Eine Woche war ich nun schon unterwegs und hinter mir lagen bereits 141 km. Verrückt, wenn ich so darüber nachdachte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich mich nach der ersten Etappe fühlte und ich dachte: So, jetzt hast du ganze 25 von 800 km geschafft 🙂 *Ironie aus*. An die Gespräche der anderen Pilger konnte ich mich noch sehr gut erinnern, als diese darüber fachsimpelten, wie viele Tage sie wohl bis Santiago benötigen werden. Ich hatte dazu gar keine Meinung, für mich war das kein Wettlauf und daher völlig unwichtig. Woher sollte ich jetzt wissen wie es mir gehen wird oder welche Ereignisse mich womöglich am Weitergehen hindern könnten. Mein Limit waren einfach die sechs Wochen, die ich mir frei nehmen konnte, um hier zu sein.

Ich startete an diesem Morgen wieder allein, Janaja schien noch zu schlafen. Als ich Torres del Rio gerade verlassen wollte, sprachen mich in der Dunkelheit zwei Pilger an, die mir den Tipp gaben, doch noch in den Innenhof einer Scheune an der Ecke zu gehen. Hier würde es einen besonderen Stempel geben, der aus einem bekannten Zitat bestand. Neugierig suchte ich die besagte Scheune auf.

Stempel mit dem Zitat eines spanischen Professors in Torres del Rio aus dem Jahr 2013

Übersetzt bedeutet der Stempel sinngemäß: „Du musst nicht in Eile sein um etwas zu erreichen. Das Ziel ist nicht das Ziel. Du wirst die Antworten auf dem Camino finden.“

Ich ging durch die große Holztür zu einem kleinen Tisch an dem es den begehrten Stempel gab. Nach einer kleinen Spende und einem herzlichen Muchas Gracias verließ ich den Ort ziemlich happy und dankbar, dass mich die Pilger angesprochen hatten. Nun trug ich diesen außergewöhnlichen Stempel in meinem Pilgerpass. Der Weg war bis auf ein paar kleine Steigungen und Senken sehr angenehm zu laufen. Auch heute war ich wieder in den bequemen Sneakern unterwegs. Die Wanderschuhe waren gut von außen am Rucksack befestigt. Mit Elke aus Augsburg, die ich an diesem Morgen kennen lernte, ging ich ein ganzes Stück bis wir zu einem kleinen Stand kamen, an dem es gegen eine kleine Spende Erfrischungen und Snacks gab. Den Kaffee hier hätte ich mir allerdings getrost schenken können, da er fast ungenießbar war. Aber der Camino wäre nicht der Camino, wenn er einem nach dieser Enttäuschung nicht wieder zurückgeben würde. Der Weg ging weiter in Richtung Viana. Als es heller wurde und ich mich umdrehte, konnte ich den wunderschönen Sonnenaufgang am Horizont genießen.

Sonnenaufgang bei Viana

Der Weg führte mich weiter auf eine Hochebene. Oben angekommen entdeckte ich am Wegesrand unzählige Steinmännchen mit kleinen Botschaften, die die Pilger hier hinterließen.

Steinmännchen auf einer Hochebene nach Torres del Rio

Hinter dieser Hochebene ging es teils steil bergab. Ab hier zierten wieder unzählige Weinberge den Weg. In Viana, der letzten Stadt der Region Navarra, stoppte ich. Nach knapp drei Stunden Wandern war es Zeit für ein Frühstück. Gleichzeitig eine gute Gelegenheit die Füße kurz von den Schuhen zu befreien.

Stadtfest in Viana. Unter den Kostümen befanden sich durchweg Kinder 🙂

In der wohltuenden Pause beobachtete ich das Treiben in der Stadt, heute war Sonntag. Hier schien heute ein Fest statt zu finden. Ich erblickte eine Menge „Gestalten“ auf den Straßen. Auf meine Nachfrage stellte sich heraus, dass sich unter all den Kostümen Kinder verbargen :-). Als ich mich wieder auf den Weg machte, traf ich auf Lisa aus Bremen. Nach dem ersten Kennenlernen, unterhielten wir uns sehr schnell über psychische Erkrankungen, da sie selbst erst vor kurzem genau aus diesem Grund ein Jahr krank war. Wir tauschten uns auf Anhieb sehr offen über dieses Thema aus. Ich war dankbar, dass sie ihre Erlebnisse mit mir teilte.

Das war und ist das Besondere auf dem Camino. Fast immer lauten die ersten Sätze beim Kennenlernen: Wie heißt du? Wo kommst du her? Warum bist du hier? So kam man, wenn man wollte, sehr schnell dazu, wildfremden Menschen die persönlichsten Dinge zu erzählen. Eine Art Seelentherapie beim Wandern. Völlig normal hier auf dem Camino. Hier haben diese Dinge den Raum, ohne Scham über sie reden zu können. Ich erzählte ihr auch von meiner Situation, meinen Bruder betreffend. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten in den Erlebnissen und Erfahrungen und wie wir beide damit bisher umgegangen waren.

So unterhielten wir uns sehr lange und intensiv während wir die Region Rioja erreichten. Bei aller Ernsthaftigkeit und Wertschätzung für unser Gespräch musste ich doch hier schnell ein Foto machen.

Wir erreichten das wohl bekannteste Weinanbaugebiet Spaniens

Etwas weiter trennten sich unsere Wege wieder, da Lisa noch einen weiteren Stopp einlegen wollte. So ging ich ging weiter und kaufte mir wenige Meter später mein erstes Souvenir, noch bevor ich Logroño erreichte.

Ab diesem Moment mein neuer Wegbegleiter

Kurz vor Erreichen der Stadtgrenze stempelte viele Jahre lang Doña Felisa die Pilgerpässe. 2002 war sie im Alter von 92 Jahren verstorben. Jetzt drückte die Tochter Maria den schönen Stempel mit der Inschrift „Higos – agua y amor“ (Feigen, Wasser und Liebe) in den Pilgerpass und verkaufte auch kleine Souvenirs. Sie begrüßte die Pilger herzlich und führte Buch über jeden der den Weg beschritt. Das Armband sollte mich ab diesem Moment bis zum Ende meines Weges begleiten. Ich erreichte Logroño und die allgemeine Herberge der Stadt. Viele Pilger waren bereits vor mir hier angekommen an dem Tag und die Herberge war noch geschlossen. So stellten wir alle unserer Rucksäcke in „Reih und Glied“ auf und warteten darauf, dass sich die Türen der Herberge öffneten.

Wer zuerst kommt, malt zuerst. Die Rucksäcke stehen in richtiger Reihenfolge

Nach erfolgreich überstandener Wartezeit und dem Einchecken suchte ich mit einigen anderen Pilgern direkt den nächstgelegenen Supermarkt auf. Auf dem Weg dahin lief mir Ivan in die Arme, ich freute mich total ihn so unverhofft wieder zusehen. Nachdem wir gemeinsam vom Supermarkt zurück waren, standen dann auch noch Julius, Christoph und Louise in der Herberge. Die alte Truppe hatte sich wieder getroffen. Zusammen mit einigen anderen Pilgern aus Spanien, England und Deutschland verbrachten wir fast die ganze Zeit im Innenhof der Herberge. Das Wetter spielte abermals mit und es wurde ein milder Sommerabend in Logroño. Bei ausgelassener Stimmung und dem ein oder anderen Glas Rioja verging die Zeit viel zu schnell bis wir alle so langsam ins Bett mussten.

ein schöner Abend in Logroño ging viel zu schnell zu Ende